Die fehlende allgemeinverbindliche Definition der Schrittgeschwindigkeit ist den Behörden nicht unbekannt. Sie versuchen deshalb Rechtssicherheit auch mit neuen Kreationen verkehrsrechtlicher Anordnungen zu erlangen, wie das folgende Fallbeispiel zeigt:

 

Beispiel

Das AG Bad Kreuznach[17] hatte über den Einspruch gegen einen Bußgeldbescheid zu entscheiden, der dem Betroffenen eine Überschreitung von 21 km/h nach normalem Toleranzabzug vorwarf. Der ortsunkundige Betroffene war in eine Tempo-30-Zone eingefahren, in der kurze Zeit später ein Spielstraßenschild (Zeichen 325.1) folgte, das der Betroffene aber nicht wahrgenommen hatte. In der rechten Ecke des Schildes (also auf dem Schild!) befand sich ein kleiner weißer Kreis mit roter Umrandung um eine schwarze 6, das in der Gestaltung dem Zeichen 274 entsprach, aber erheblich kleiner war. Die Straßenverkehrsbehörde ging bei dieser Schilderkombination wohl selbst nicht davon aus, damit eine Höchstgeschwindigkeit von 6 km/h angeordnet zu haben und legte, wie der Vorwurf im Bußgeldbescheid zeigte, eine Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h nach Toleranzabzug zu Grunde. Dies hätte allerdings schon eine Regelbuße nach dem Bußgeldkatalog von 80 EUR mit der weiteren Folge eines Punktes im Fahreignungsregister zur Folge gehabt, während die Auslegung von 11 km/h erlaubter Höchstgeschwindigkeit eine Buße von 35 EUR ohne Eintragung eines Punktes nach sich gezogen hätte.

Die von der Behörde gewählte Schildkombination als verbindliche Anordnung einer Höchstgeschwindigkeit von 6 km/h oder auch 10 km/h anzusehen, begegnet aus den folgenden Gründen Bedenken:

Die lfd. Nr. 12 Anlage 3 StVO regelt zum Zeichen 325.1: "1. Fahrzeugführer müssen mit Schrittgeschwindigkeit fahren.". Zu einem Zusatzzeichen wird nichts ausgeführt. Das Schild, auf das die Behörde ihren Bußgeldbescheid stützt, ist abweichend von der Anlage 3 der StVO verwendet worden. Es handelt sich bei der Abweichung nicht um ein unter dem Schild 325.1 angebrachtes Zusatzschild in normaler Größe. Damit kann dieser Zusatz keinen Regelungscharakter entfalten. Da dieser Zusatz auf dem Schild 325.1 dessen Lesbarkeit beeinträchtigt, ist es unwirksam.

Die Verwaltungsvorschrift zu § 39 StVO fordert, dass nur die in der StVO abgebildeten Verkehrszeichen verwendet werden dürfen. Zusatzzeichen sind zwar zulässig, aber nicht ihre Neukombination zu einem Zeichen, es sei denn gemeinsam auf einer weißen Trägertafel. Auch sind Mindestmaße hinsichtlich der Größe von Verkehrszeichen vorgeschrieben, die hier offensichtlich nicht eingehalten wurden. Abweichungen von diesen Vorschriften sind nur im engen Rahmen für den Fußgänger- und Radverkehr oder bei Regelungen für das Halten und Parken, nicht also für den vorliegenden Fall, zulässig. Zudem muss eine Abweichung notwendig sein. Eine Notwendigkeit entfällt schon deshalb, weil ein Zusatzschild in normaler Größe problemlos hätte Verwendung finden können.

Auch wenn man von einer Rechtswirksamkeit des Ursprungsschildes 325.1 ausgeht (d.h. den Zusatz auf dem Schild nicht als Beeinträchtigung seiner Lesbarkeit auffasst), liegt keine als Überschreitung von 21 km/h zu sanktionierende Tat vor. Eine Auslegung des Begriffs "Schrittgeschwindigkeit" auf 6 km/h ist ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot. Eine Beschränkung der Schrittgeschwindigkeit auf 6 km/h ist hier deshalb nicht rechtswirksam erfolgt. Eine erweiterte Auslegung auf 10 km/h, wie im Bußgeldbescheid geschehen, heilt diesen Mangel nicht.[18]

Das AG Bad Kreuznach wich einer grundsätzlichen Entscheidung über die Definition der Schrittgeschwindigkeit leider aus und verurteilte den Betroffenen zu einer Geldbuße von 55 EUR (also ohne Eintragung in das FAER), weil es der zweiten Verteidigungslinie folgte, dass das Schild 325.1 teilweise durch Zweige verdeckt war.[19]

[17] Urt. v. 22.9.2016 – 47 OWi 1022 Js 11746/16 (sonst unveröffentlicht).
[18] Nach Ansicht von Gebhardt führt eine unzweckmäßige oder gar einen Irrtum begünstigende Verkehrszeichengestaltung noch nicht zu seiner Nichtigkeit, kann aber u.U. den Schuldvorwurf entfallen lassen. Gebhardt, Das verkehrsrechtliche Mandat, Band 1: Verteidigung in Verkehrsstraf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren, 8. Aufl., § 20 Rn 39 unter Bezugnahme auf OLG Jena DAR 2011, 37.
[19] Die Einstellung des Verfahrens oder der Freispruch wäre bei dieser Begründung richtig gewesen, weil eine teilweise Verdeckung, die zur Beeinträchtigung der leichten Erkennbarkeit des Verkehrszeichen führt, dieses unwirksam werden lässt., Gebhardt a.a.O. § 20 Rn 31 unter Bezugnahme auf OLG Stuttgart VRS 95, 441; OVG Münster NZV 2005, 335; OLG Hamm zfs 2011, 107.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge