Der Anscheinsbeweis erbringt nur vorläufigen Beweis.[38] Ist er geführt, so kann der in Anspruch Genommene ihn erschüttern, indem er Tatsachen darlegt und gegebenenfalls beweist, nach welchen die Möglichkeit eines anderen als des typischen Geschehensablaufs ernsthaft in Betracht kommt.[39] Es genügt also der Gegenbeweis. Der in Anspruch Genommene muss nicht das Gegenteil beweisen; er muss nicht beweisen, dass er das Schadensereignis nicht verursacht bzw. verschuldet hat.[40] In dem Schäferhund-Dalmatiner-Fall wäre der für ein Verschulden des von der Fahrbahn abgekommenen Autofahrers sprechende Anscheinsbeweis dementsprechend erschüttert worden, wenn der Fahrer die ernsthafte Möglichkeit bewiesen hätte, dass ihn der Schäferhund seines Beifahrers plötzlich beim Führen des Kraftfahrzeugs behindert hatte. Hieran könnte man beispielsweise denken, wenn sich der Dalmatiner nachweislich so in der Nähe des herannahenden Pkw aufhielt, dass der Schäferhund ihn wahrnehmen konnte. Der Fahrer brauchte hingegen nicht zu beweisen, dass ihm der Schäferhund tatsächlich ins Steuer gesprungen war.

Beim klassischen Auffahrunfall – beispielsweise im Fall des Pfarrers, der auf den Panzer der britischen Streitkräfte aufgefahren ist – kann der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis erschüttert werden, wenn der Nachweis erbracht wird, dass ein Fahrzeug vorausgefahren ist, welches nach seiner Beschaffenheit geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht auf das Hindernis zu versperren, dieses Fahrzeug erst unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur gewechselt hat und dem Nachfahrenden ein Ausweichen nicht mehr möglich war.[41] Gleiches gilt, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges "ruckartig" – etwa infolge einer Kollision – zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist.[42] Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug durch eine Vollbremsung zum Stillstand kommt. Denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren.[43]

Gelingt es dem in Anspruch Genommenen, den Anscheinsbeweis zu erschüttern, so hat der Anspruchsteller den vollen Beweis der anspruchsbegründenden Tatsachen zu erbringen.[44] Er muss also Kausalität und Verschulden ohne die Erleichterungen des Anscheinsbeweises aufgrund der konkreten Umstände des Falles nachweisen.

[38] Lepa, NZV 1992, 129, 131; Zöller/Greger, a.a.O., Vor § 284 Rn 29.
[39] Vgl. BGH, Urt. v. 3.7.1990 – VI ZR 239/89, VersR 1991, 195, 196 m.w.N.; v. 14.12.1993 – VI ZR 271/92, VersR 1994, 324; v. 4.3.1997 – VI ZR 51/96 – VersR 1997, 835, 836 m.w.N.; v. 16.3.2010 – VI ZR 64/09, VersR 2010, 627.
[40] Vgl. BGH, Urt. v. 4.6.1985 – VI ZR 15/84, VersR 1985, 989; v. 5.2.1987 – I ZR 210/84, BGHZ 100, 31, 34.
[41] Vgl. BGH, Urt. v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, VersR 1987, 358, 359 f.
[42] BGH, Urt. v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, VersR 1987, 358, 360; vgl. Lepa, NZV 1992, 129, 132.
[43] BGH, Urt. v. 23.4.1968 – VI ZR 17/67, VersR 1968, 670, 672; v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, VersR 1987, 358, 360; v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, VersR 2007, 557.
[44] BGH, Urt. v. 17.4.1951 – I ZR 28/50, BGHZ 2, 1, 5; v. 19.11.1985 – VI ZR 176/84, VersR 1986, 343; vgl. auch vgl. BGH, Urt. v. 13.11.1998 – V ZR 386/97, NJW 1999, 352, 353; v. 14.1.1991 – II ZR 190/89, BGHZ 113, 222.

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