Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung der Tatsache, dass die Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands den Unfall mitverursachte, bei der Abwägung des Mitverschuldens. Nichteinhaltung des Sicherheitsabstands als Mitverschulden auch dann, wenn es sich beim weiteren Unfallverursacher nicht um den Vorausfahrenden handelt

 

Leitsatz (amtlich)

Hat die Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands den Unfall mitverursacht, ist der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile grundsätzlich gegenüber jedem Mitverursacher zu berücksichtigen.

 

Normenkette

BGB § 254 Abs. 1; StVG § 17 Abs. 1; StVO § 4 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Oldenburg (Urteil vom 03.11.2005; Aktenzeichen 9 S 458/05)

AG Vechta (Entscheidung vom 14.06.2005; Aktenzeichen 11 C 193/05)

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil der 9. Zivilkammer des LG Oldenburg vom 3.11.2005 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

[1] Der Kläger begehrt restlichen Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 28.6.2004 in S. Der Kläger befuhr mit seinem Pkw die D.-Straße aus Richtung S. kommend. Vor ihm fuhr Frau H. mit ihrem Pkw. Der Beklagte zu 1) kam mit seinem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw aus einer Grundstücksausfahrt. Er wollte vor dem herannahenden Pkw von Frau H. nach links in die D.-Straße in Richtung S. einbiegen. Frau H. leitete eine Vollbremsung ein und lenkte ihr Fahrzeug nach links. Auf diese Weise gelang es ihr, einen Zusammenstoß mit dem Pkw des Erstbeklagten zu vermeiden. Der Kläger bremste ebenfalls und versuchte nach links auszuweichen. Dabei kollidierte sein Pkw mit dem von Frau H. Den Schaden des Klägers hat die Zweitbeklagte i.H.v. 1.668,06 EUR ersetzt. Mit der Klage hat der Kläger Zahlung weiterer 1.668,04 EUR begehrt. Das AG hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LG die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

[2] Das Berufungsgericht ist der Auffassung, den Kläger treffe an dem Unfall ein hälftiges Mitverschulden. Es spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass er den erforderlichen Mindestabstand (§ 4 StVO) zu dem vorausfahrenden Fahrzeug von Frau H. nicht eingehalten habe oder es an der gebotenen Aufmerksamkeit habe fehlen lassen. Der Berücksichtigung eines Mitverschuldens stehe entgegen der Auffassung des AG nicht entgegen, dass der Schutzbereich von § 4 StVO den verkehrswidrig auf eine Straße Auffahrenden nicht umfasse. Ein Mitverschulden des Auffahrenden ggü. dem Unfallverursacher komme vielmehr auch dann in Betracht, wenn der Vorausfahrende ohne eigenes Verschulden durch einen unter Missachtung der Vorfahrt einbiegenden oder einen den Fahrstreifen wechselnden Unfallverursacher zum Abbremsen veranlasst werde.

II.

[3] Das angefochtene Urteil hält den Angriffen der Revision stand.

[4] 1. Zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass der Erstbeklagte den Verkehrsunfall verschuldet hat, als er aus einer Grundstücksausfahrt in die D.-Straße einfuhr, ohne die herannahenden Fahrzeuge zu beachten. Diese Vorfahrtsverletzung veranlasste Frau H. zu dem Brems- und Ausweichmanöver, das zu der Kollision mit dem Pkw des Klägers führte. Der Erstbeklagte hat damit gegen § 10 Satz 1 StVO verstoßen. Nach dieser Vorschrift hat sich derjenige, der aus einem Grundstück auf die Straße einfahren will, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.

[5] 2. Ohne Rechtsfehler nimmt das Berufungsgericht auch an, dass der Verkehrsunfall von dem Kläger mitverursacht worden ist. Wer im Straßenverkehr auf den Vorausfahrenden auffährt, war in der Regel unaufmerksam oder zu dicht hinter ihm. Dafür spricht der Beweis des ersten Anscheins (Senat, Urt. v. 6.4.1982 - VI ZR 152/80, MDR 1982, 841 = VersR 1982, 672; v. 23.6.1987 - VI ZR 188/86, MDR 1988, 41 = VersR 1987, 1241; v. 18.10.1988 - VI ZR 223/87, MDR 1989, 150 = VersR 1989, 54). Dieser wird nach allgemeinen Grundsätzen nur dadurch erschüttert, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird (Senat, Urt. v. 18.10.1988 - VI ZR 223/87, MDR 1989, 150 - a.a.O.). Dies kommt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats etwa dann in Betracht, wenn der Nachweis erbracht wird, dass ein Fahrzeug vorausgefahren ist, welches nach seiner Beschaffenheit geeignet war, dem Nachfahrenden die Sicht auf das Hindernis zu versperren, dieses Fahrzeug erst unmittelbar vor dem Hindernis die Fahrspur gewechselt hat und dem Nachfahrenden ein Ausweichen nicht mehr möglich oder erheblich erschwert war (Senat, Urt. v. 9.12.1986 - VI ZR 138/85, MDR 1987, 488 = VersR 1987, 358, 359 f.). Von einem vergleichbaren Sachverhalt kann nach den vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen vorliegend jedoch nicht ausgegangen werden.

[6] Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann auch dann erschüttert werden, wenn der Vorausfahrende unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges "ruckartig" - etwa infolge einer Kollision - zum Stehen gekommen und der Nachfolgende deshalb aufgefahren ist (Senat, Urt. v. 9.12.1986 - VI ZR 138/85, MDR 1987, 488 - a.a.O.; vgl. Lepa, NZV 1992, 129, 132). Daran fehlt es aber, wenn das vorausfahrende Fahrzeug - wie hier der Pkw von Frau H. - durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, denn ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren (BGHSt 17, 223, 225; Senat, Urt. v. 23.4.1968 - VI ZR 17/67, VersR 1968, 670, 672; v. 9.12.1986 - VI ZR 138/85, MDR 1987, 488 - a.a.O., m.w.N.).

[7] 3. Ohne Erfolg wendet sich die Revision dagegen, dass das Berufungsgericht das Mitverschulden des Klägers im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile gem. § 17 Abs. 1 StVG berücksichtigt hat.

[8] a) Die Entscheidung über eine Haftungsverteilung im Rahmen des § 254 BGB oder des § 17 StVG ist grundsätzlich Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (vgl. Senat, Urt. v. 12.7.1988 - VI ZR 283/87, MDR 1989, 54 = VersR 1988, 1238 f.; v. 5.3.2002 - VI ZR 398/00, BGHReport 2002, 628 = VersR 2002, 613, 615 f.; v. 25.3.2003 - VI ZR 161/02, MDR 2003, 805 = BGHReport 2003, 872 = VersR 2003, 783, 785; v. 13.12.2005 - VI ZR 68/04, MDR 2006, 809 = BGHReport 2006, 488 = VersR 2006, 369, 371, jeweils m.w.N.; BGH, Urt. v. 20.7.1999 - X ZR 139/96, NJW 2000, 217, 219 m.w.N.; v. 14.9.1999 - X ZR 89/97, NJW 2000, 280, 281 f.). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. In erster Linie ist hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (Senat, Urt. v. 20.1.1998 - VI ZR 59/97, MDR 1998, 532 m. Anm. Lessing = VersR 1998, 474, 475 m.w.N.).

[9] b) Diesen Grundsätzen wird die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung gerecht. Der Umstand, dass der Kläger nach den getroffenen Feststellungen entweder den gem. § 4 Abs. 1 StVO erforderlichen Abstand zum vorausfahrenden Pkw nicht eingehalten hat oder aber nicht aufmerksam genug war (vgl. § 1 Abs. 1 und 2 StVO), hat maßgeblich zu dem Unfallgeschehen beigetragen und ist deshalb im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile zu berücksichtigen. Dem steht nicht entgegen, dass die Einhaltung des Sicherheitsabstands Auffahrunfälle vermeiden soll und der Schutz des § 4 StVO deshalb in erster Linie dem Vorausfahrenden zugute kommt. Die Einhaltung des Abstandes dient nämlich nicht allein dem Schutz des Vorausfahrenden. Die Vorschriften der StVO haben den Zweck, die Gefahren des Straßenverkehrs abzuwehren und Verkehrsunfälle zu verhindern. Die hierfür aufgestellten Regeln beruhen auf der durch Erfahrung und Überlegung gewonnenen Erkenntnis, welche typischen Gefahren der Straßenverkehr mit sich bringt und welches Verkehrsverhalten diesen Gefahren am besten begegnet. Damit besagen die Verkehrsvorschriften zugleich, dass ihre Nichteinhaltung die Gefahr eines Unfalles in den Bereich des Möglichen rückt (BGH, Urt. v. 19.9.1974 - III ZR 73/72, VersR 1975, 37). Auch § 4 Abs. 1 StVO dient der Sicherheit des Straßenverkehrs. Die Vorschrift soll nicht nur Auffahrunfälle vermeiden, sondern bezweckt auch, die Übersicht des Kraftfahrers über die Fahrbahn zu verbessern und ihm eine ausreichende Reaktionszeit zur Begegnung von Gefahren zu ermöglichen (OLG München, VersR 1968, 480). Hat die Nichteinhaltung des gebotenen Sicherheitsabstands den Unfall mitverursacht, ist der Verstoß gegen § 4 Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der beiderseitigen Verursachungsanteile grundsätzlich zu berücksichtigen. Dies gilt entgegen der Auffassung der Revision unabhängig davon, ob der andere Unfallverursacher in den Schutzbereich dieser Vorschrift einbezogen ist.

[10] c) Die Beurteilung des Berufungsgerichts, vorliegend sei eine hälftige Schadensteilung angemessen, weil die Verkehrsverstöße des Klägers und des Erstbeklagten in gleichem Maße den Unfall verursacht hätten, beruht auf einer tatrichterlichen Würdigung des konkreten Unfallgeschehens, die aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist und von der Revision auch nicht angegriffen wird.

[11] 4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1703772

BGHR 2007, 447

EBE/BGH 2007, 85

NJW-RR 2007, 680

DAR 2008, 337

MDR 2007, 717

NZV 2007, 354

VRS 2007, 420

VersR 2007, 557

ZfS 2007, 378

NJW-Spezial 2007, 161

SVR 2009, 20

VRA 2007, 59

VRR 2007, 308

r+s 2007, 166

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