Ein erlaubtes Überholen mit "wesentlich höherer Geschwindigkeit als der zu Überholende" liegt zwischen Lkw auf einer zweispurigen Autobahn grds. auch dann noch vor, wenn die Differenz mindestens 10 km/h beträgt.[81] Den Zweck der Regelung des § 5 Abs. 2 S. 2 StVO hat die Rechtsprechung von jeher darin gesehen, eine Behinderung oder gar Gefährdung des übrigen Verkehrs durch ungewöhnlich lang dauernde Überholvorgänge zu verhindern. Innerorts wird dabei eine Differenz von 50 zu 40 km/h[82] als noch zulässig angesehen; für den Fall eines Überholvorganges zwischen Lkw auf der Autobahn (sog. "Elefantenrennen") hat das OLG Hamm eine Geschwindigkeitsdifferenz von 10 km/h oder mehr (80 zu 70 km/h) als noch regelkonform beurteilt.[83] Als Faustregel ist dabei eine Dauer von höchstens 45 Sekunden anzusetzen (Länge des überholten Fahrzeugs von knapp 25 m; vor und nach dem Überholen vorgeschriebener Sicherheitsabstand von 50 m, § 4 Abs. 3 StVO). Stets vorbehaltlich der konkreten Verkehrssituation im Einzelfall sind jedenfalls Überholvorgänge auf zweispurigen Autobahnen, die bei einer Dauer von mehr als 45 Sekunden bzw. einer Differenzgeschwindigkeit von unter 10 km/h zu einer deutlichen Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer führen, bußgeldrechtlich zu ahnden.

Dabei sind zwei Dinge zu beachten. Zum einen sind etwaige Messungenauigkeiten für den Überholten und den Überholenden gleichermaßen anzusetzen: Die gemessene Geschwindigkeitsdifferenz wäre danach unter Anwendung des Zweifelsgrundsatzes durch Heraufrechnen auf Seiten des Überholenden und Herabsetzung auf Seiten des Überholten zu erhöhen. Die 45-Sekunden-Regel gilt nämlich nur bei Geschwindigkeitsdifferenzen von 10 km/h oder mehr. Deshalb kann der Verteidiger bei der Messung mit einem Brückenabstandsmessgerät darauf angewiesen sein, ggf. durch die Addition und Subtraktion der Messtoleranz bei den beiden beteiligten Fahrzeugen die Differenzgeschwindigkeit doch auf 10 km/h oder mehr zu bringen.

Zum anderen bedarf es stets der Feststellung einer konkreten Beeinträchtigung des hinter dem überholenden Fahrzeug aufgelaufenen Verkehrs im Sinne einer unangemessenen Behinderung.[84] Dabei darf aber nicht einseitig das Interesse der am schnellen Fortkommen interessierten Pkw-Fahrer im Vordergrund stehen mit der Folge, dass das Erfordernis nach einer zu großen Geschwindigkeitsdifferenz einem faktischen Überholverbot für Lkw auf zweispurigen Autobahnen gleich kommt. Ob der Verkehrsfluss unangemessen behindert wird, ist einzelfallabhängig festzustellen.

[81] OLG Zweibrücken, Beschl. v. 16.11.2009 – 1 SsRs 45/09, SVR 2010, 66; OLG Hamm, 29.10.2008 – 4 Ss OWi 629/08, NZV 2009, 302.
[82] BGH, Urt. v. 25.6.1968 – VI ZR 158/67, VersR 1968, 1040.
[83] Im Vergleich dazu AG Lüdinghausen, Urt. v. 19.12.2005 – 10 OWi 248/05, NZV 2006, 492: weniger als 10 km/h nicht ausreichend.
[84] OLG Hamm, Beschl. v. 29.10.2008 – 4 Ss OWi 629/08, NZV 2009, 302; Nugel, jurisPR-VerkR 8/2009 Anm. 6.

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