GG Art. 1 Abs. 1 Art. 19 Abs. 4 Art. 2 Abs. 1; FeV 2010 § 11 Abs. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 4, Abs. 6 § 20 Abs. 1; StVG § 2 Abs. 2, Abs. 4 § 4 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 5, Abs. 7 § 4a; VwGO § 44a

 

Leitsatz

1. Zur Frage der selbstständigen Anfechtbarkeit der Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung: Auch wenn von der Literatur teilweise beachtliche Argumente dagegen vorgebracht werden, handelt es sich bei der Aufforderung zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung um eine lediglich vorbereitende behördliche Verfahrenshandlung im Sinne des § 44a VwGO, die nicht isoliert anfechtbar ist und deren Rechtswidrigkeit nur zusammen mit dem gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelf geltend gemacht werden kann.

2. Zur Frage der Vorwegnahme der Hauptsache bei einer einstweiligen Anordnung der vorläufigen Neuerteilung einer Fahrerlaubnis:

Zur Vermeidung später nicht mehr auszugleichender Nachteile ist es gerechtfertigt, das in Verfahren nach § 123 VwGO grundsätzlich geltende Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Interesse der Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu durchbrechen. Abgesehen davon, dass sich die hier ausgesprochene Anordnung darauf beschränkt, eine vorläufige Neuerteilung nicht aus Gründen einer fehlenden medizinisch-psychologischen Untersuchung zu versagen, und selbst eine vorläufige Neuerteilung eines Führerscheins für den Fall einer entsprechenden Hauptsacheentscheidung grundsätzlich wieder rückgängig gemacht werden könnte, ist die tenorierte Regelung hier schlechterdings notwendig, weil sonst für den Antragsteller, für den existenzielle Belange betroffen sind, unzumutbare Nachteile zu erwarten wären und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache spricht.

3. Zur Frage eines erheblichen Verstoßes gegen Verkehrsvorschriften (hier bejaht für eine Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 85 km/h außerorts):

Der (normativ nicht definierte) erhebliche Verstoß muss sich zwar qualitativ und mit Blick auf die Fahreignung vom einfachen eintragungsfähigen Verstoß unterscheiden, so dass ein Verstoß gegen verkehrsrechtliche Vorschriften, der gerade einmal die Grenze zur Eintragungspflichtigkeit überschreitet, in der Regel noch kein erheblicher sein kann; zudem sind die amtliche Begründung, die durch das genannte Beispiel der Teilnahme an illegalen Straßenrennen auf eine eher restriktive Auslegung hindeutet, sowie die Systematik der Vorschrift zu berücksichtigen.

4. Liegt tatbestandlich ein erheblicher Verkehrsverstoß im Sinne des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV (juris: FeV 2010) vor, so setzt die Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung zudem eine ordnungsgemäße Ermessensausübung seitens der Fahrerlaubnisbehörde voraus.

5. Die Regelung des § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV (juris: FeV 2010) steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Punktesystem des § 4 Abs. 5 i.V.m § 4 Abs. 1 StVG; von der Spezialität des Punktesystems darf nur abgewichen werden, wenn dies die Verkehrssicherheit und damit die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer gebieten.

6. Die Fahrerlaubnisbehörde muss bei der Anordnung einer medizinisch-psychologischen Untersuchung außerhalb des Punktesystems im Einzelnen unter Auswertung aller konkreten Umstände sehr präzise begründen, warum sie es aus besonderen Gründen im Einzelfall, der sich erheblich vom Normalfall anderer Punktesünder abheben muss, aufgrund einer Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Kraftfahrers oder wegen der Art, der Häufigkeit oder des konkreten Hergangs der Verkehrsordnungswidrigkeiten etwa für unerlässlich hält, die Fahreignungsbedenken sofort durch eine medizinisch-psychologische Untersuchung zu klären, ohne dem Betroffenen die Chance zu belassen, zuvor die abgestuften Hilfsangebote des § 4 Abs. 5 StVG wahrzunehmen.

7. Dass der Normgeber bei Geschwindigkeitsüberschreitungen über 40 km/h außerorts zwei Punkte vergibt und es dabei auch belässt, wenn die zulässige Höchstgeschwindigkeit noch um einen erheblich höheren Wert überschritten wird, beeinflusst auch die Gewichtung der Geschwindigkeitsüberschreitung im Fahrerlaubnisrecht in der Weise, dass allein an die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung nicht bereits die Würdigung geknüpft werden kann, der Fahrerlaubnisinhaber sei deswegen in charakterlicher Hinsicht zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet oder habe zumindest an seiner Eignung gewichtige Zweifel begründet, wenn nicht weitere Umstände hinzutreten.

8. § 13 FeV (juris: FeV 2010) konkretisiert die Fälle, in denen die Fahrerlaubnisbehörde im Zusammenhang mit einer Alkoholproblematik die Fahreignung durch ein ärztliches oder medizinisch-psychologisches Gutachten zu klären hat; § 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 FeV (juris: FeV 2010) darf nicht so ausgelegt werden, dass hierdurch die Wertung des Verordnungsgebers, bei bestimmten alkoholbedingten Verstößen gegen Verkehrsvorschriften von der (zwingenden) Einholung eines medizinisch-psychologischen Sachverständige...

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