Bis zu der Entscheidung des BGH v. 28.1.2003 (NZV 2003, 167 m. Anm. Burmann ebd.) wurde vielfach in der Rspr. der Versuch unternommen, geltend gemachte Schadenersatzansprüche, die auf die Behauptung eines bei einem Unfall erlittenen HWS-Syndroms gestützt wurden, mit der Begründung zu verneinen, wegen der kollisionsbedingten Differenzgeschwindigkeit der beiden an dem Auffahrunfall beteiligten Fahrzeuge von weniger als 10 km/h sei der Eintritt einer Wirbelsäulen-Verletzung bei einer gesunden Person in der Regel ausgeschlossen (vgl. OLG Hamm zfs 2001, 160; KG NJW 2000, 877; OLG Hamburg NZV 2002, 503). Der BGH verwarf in der angeführten Entscheidung diesen Ansatz zur Bewältigung des Massenproblems des behaupteten HWS-Syndroms, indem es der Unterschreitung der Harmlosigkeitsgrenze keinen zwingenden Grund für die Verneinung des Auftretens eines HWS-Syndroms zuwies. Die schematische Übertragung des lediglich angenommenen Grundsatzes des Bestehens einer Harmlosigkeitsgrenze, die aus der maßgeblichen medizinischen Sicht in Zweifel gezogen wurde (vgl. Castro/Becke, zfs 2002, 365 (366)) führte denn auch in der Rechtsprechung, schon bevor der BGH die Harmlosigkeitsgrenze als tragende Erwägung für eine Verneinung der Ursächlichkeit eines Unfalls für ein HWS-Syndrom verwarf, zur Kritik an der alleinigen Heranziehung der "Harmlosigkeitsgrenze" zur Verneinung des HWS-Syndroms (vgl. OLG Hamm VersR 2002, 992 (994)); OLG Frankfurt NZV 2002, 120). Allerdings darf die Entscheidung des BGH nicht dahin missverstanden werden, dass die Kollisionsgeschwindigkeit der unfallbeteiligten Fahrzeuge gänzlich belanglos sei. "Nicht allein" von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ist nach der Stellungnahme des BGH die Ursächlichkeit des Auffahrunfalls für den möglichen Eintritt der HWS-Distorsion abhängig. Daneben werden Sitzposition und unbewusste Drehung des Kopfes als mögliche Einflussfaktoren für die Schädigung der Halswirbelsäule ausgemacht (vgl. auch Mazzotti/Castro, NZV 2002, 499 (500)). Damit ist das Abstellen auf die Harmlosigkeitsgrenze allein zum einen die Anknüpfung an einen nicht gesicherten medizinischen Lehrsatz und daher zugleich eine unvollständige, alle Umstände nicht ausschöpfende Beweiswürdigung. Die erforderliche interdisziplinäre Begutachtung fordert neben einer biomechanischen Klärung der Belastung, an die der medizinische Sachverständige anknüpfend die unter Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse des Geschädigten (Sitzposition, Vorschädigungen, Drehbewegungen des Kopfes) erforderlichen Feststellungen der Ursächlichkeit des Auffahrunfalles für das behauptete HWS-Syndrom treffen kann (vgl. Mazzotti/Castro, NZV 2008, 113 f.). Allerdings sind in der medizinischen Wissenschaft die besonders häufigen Fallgruppen der verschleißbedingten Veränderungen der HWS, die sog. out-of-order-position, der Überraschungseffekt und der Anstoß von Körperteilen im Fahrzeuginnenraum noch nicht abschließend geklärt (vgl. hierzu Mazzotti/Castro, a.a.O.). Auffällig ist es, dass der BGH im Gegensatz zu Tendenzen in der Rspr. aus revisionsrechtlicher Sicht die Anforderungen an den Nachweis eines unfallursächlichen HWS-Syndroms nicht hoch ansetzt. Neben dem engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Unfallereignis und danach auftretenden Beschwerden des bis dahin beschwerdefreien Geschädigten, wird der medizinischen Erstuntersuchung immerhin die Rolle eines Indizes zugebilligt, wobei einer eingeschränkten Rotation der Halswirbelsäule nach dem Unfallereignis in der bei Führung eines Indizbeweises gebotenen Gesamtschau eine zur Überzeugungsbildung ausreichende Rolle zugesprochen wird.

RiOLG Heinz Diehl, Frankfurt/M.

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