Ist unser Haftungsrecht noch zeitgemäß?

In den vergangenen Jahren hat sich der Straßenverkehr durch eine Vielzahl von technischen Neuerungen stark verändert; dies nicht nur bezogen auf die bekannten und bewährten Kraftfahrzeugtypen. Neue Typen sind hinzugekommen und setzen sich immer weiter durch. Für den Gesetzgeber stellt dies keine einfache Situation dar. Auf der einen Seite will man keine Innovationen ausbremsen. Auf der anderen Seite ist die Sicherheit des Straßenverkehrs zu gewährleisten.

Der Umgang des Gesetzgebers mit technischen Geräten, die den Fahrer eines Kraftfahrzeugs ablenken können, zeigt, wie schwer es ist, mit der immer schneller voranschreitenden technischen Entwicklung Schritt zu halten. Zunächst hatte sich der Gesetzgeber für eine sehr enge Definition entschieden und damit der Verteidigung Tür und Tor geöffnet. Verglich man zudem Geräte, die legal genutzt werden durften und häufiger noch mehr als ein Mobiltelefon ablenkten, mit denen, die dem Verbot unterlagen, zeigten sich erhebliche Wertungswidersprüche. Dem Bürger war dies nur schwer zu erklären. Dies hat der Gesetzgeber nach nicht gerader kurzer Zeit erkannt und § 23 Abs. 1a StVO so reformiert, dass dieser nicht nur die aktuellen elektronischen Geräte, die für eine Ablenkung des Fahrers sorgen können, umfasst, sondern auch in der Lage ist, bei technischen Neuerungen mitzuhalten und damit zukunftsfest zu sein.

Der Arbeitskreis VI des 60. Verkehrsgerichtstags, der im August 2022 in Goslar stattfand, hatte den Titel "E-Scooter, Krankenfahrstühle, langsame Landmaschinen – ist unser Haftungsrecht noch zeitgemäß?". Über zwei Tage wurde unter anderem darüber diskutiert, ob der Gesetzgeber E-Scooter unter die Gefährdungshaftung fassen möge oder nicht. Insbesondere wegen der erwartbaren Zunahme der Nutzung und der Enge des Verkehrsraums sah der Arbeitskreis im Ergebnis ein hohes Gefährdungspotenzial und empfahl fast einstimmig die Gefährungshaftung auf E-Scooter auszudehnen.

Im Zuge der Diskussionen wurde die Frage aufgeworfen, ob man – ohne ausreichendes Datenmaterial bzw. Unfallstatistiken – überhaupt den Gesetzgeber hierzu auffordern könnte. Man müsse doch vielmehr zunächst die nächsten Jahre abwarten und prüfen, ob es überhaupt erforderlich wäre, die Gefährdungshaftung auszudehnen. Man dürfe nicht über eine Ausdehnung die für die Verkehrswende so nötigen Innovationen ausbremsen.

Richtig ist sicherlich, dass es bei diesem doch noch jungen Verkehrsmittel keine langjährigen und aussagekräftigen Unfallstatistiken gibt, die man heranziehen könnte. Der Gesetzgeber kann aber selbstverständlich auch einmal proaktiv tätig werden und sollte dies auch bezogen auf die Ausdehnung der Gefährdungshaftung. Es müssten nicht erst viele Unfälle abgewartet werden, bei denen der Geschädigte aufgrund der jetzigen Gesetzeslage (ausschließlich verschuldensunabhängige Haftung) leer ausgeht. Zwar ist die Geschwindigkeit – verglichen mit anderen Kraftfahrzeugen – geringer, und man könnte argumentieren, dass der E-Scooter doch damit (weiter) einem Fahrrad oder E-Bike gleichzustellen wäre. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich ein E-Scooter – wie ein Mofa, Motorrad oder Pkw – aus eigener Motorkraft fortbewegt und im Gegensatz zum E-Bike keine körperliche Tätigkeit des Fahrers benötigt. Allein hierdurch entsteht ein höheres Gefährdungspotenzial. Zudem: Auch wenn die Geschwindigkeit im Vergleich zu einem Motorrad oder einem Pkw weit geringer ist, ist aber der E-Scooter in der Regel in anderen (weit engeren) Verkehrsräumen bzw. -situationen unterwegs.

Im Sinnes des Schutzes des Geschädigten dürfte es daher den Gesetzgeber sehr gut zu Gesicht stehen, "vor die Welle" zukommen und jetzt die Gefährdungshaftung auszudehnen.

Autor: Stefan Herbers

RA Stefan Herbers, FA für Verkehrsrecht und für Arbeitsrecht, Oldenburg

zfs 9/2022, S. 481

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