Zeit- und Geschwindigkeitsangaben in Verkehrsunfallsachen sind sowohl im Zivil- wie auch im Strafrecht für die Klärung von Verantwortlichkeiten, wie Verursachung, Verschulden und Mitverschulden, maßgeblich. Ist eine Klärung durch Sachverständige wegen fehlender Anknüpfungstatsachen nicht möglich, kommen häufig nur dafür benannte Zeugen als Beweismittel in Betracht. Dass den Angaben von Zeugen hinsichtlich Zeit- und Geschwindigkeitsschätzungen nicht zu trauen ist, hat Streck in einer Untersuchungsreihe von etwa 25 Schätzfahrten mit ca. 600 Versuchszeugen festgestellt (vgl. Streck, 14. VGT, S. 189 ff.). Der Prozentsatz der richtigen Schätzungen lag zwischen 5 % und 20 %, sodass er zu dem Ergebnis gelangte, dass Zeugenaussagen über Geschwindigkeiten und Zeiträume "mehr oder weniger unzulänglich" seien (Streck, a.a.O. S. 193).

Diese Einschätzung, die auf fehlende ausreichende Wahrnehmungsfähigkeit, Erinnerungsvermögen und Wiedergabefähigkeit zurückzuführen ist (vgl. hierzu Streck, a.a.O, S. 189, 191 ff.; E. Schneider, MDR 1975, 15 f. m.w.N.), wird auch bei der gerichtlichen Würdigung von Zeugenaussagen über beobachtete und geschätzte Geschwindigkeiten durch Zeugen geteilt. Schätzungen Ungeschulter werden ohne Einbeziehung ausreichender Bezugstatsachen als unverwertbar angesehen (vgl. KG NZV 2008, 626; OLG Karlsruhe NZV 2008, 586; vgl. auch OLG Hamm VRS 58, 380; zustimmend Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 3 StVO Rn 63). Von Sonderfällen abgesehen werden Geschwindigkeitsschätzungen als vielfach völlig wertlos angesehen, da es hier zu einer Verbindung von grds. unzuverlässigen Zeit- und Raumschätzungen kommt (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, S. 370; E. Schneider, Beweis und Beweiswürdigung, Rn 936; Bürkle, Richterliche Alltagstheorien im Bereich des Zivilrechts, S. 103 ff.).

Diese Beurteilung der Wertlosigkeit von Geschwindigkeitsschätzungen gilt nicht für Polizeibeamte, die in Abgleichung mit objektiven Hilfsmitteln die Einschätzung von Geschwindigkeiten "erlernt" haben (vgl. BayOLG DAR 2001, 37; OLG Karlsruhe NZV 2008, 588). Angaben von Zeugen zur Überschreitung von angeordneten Schrittgeschwindigkeiten sollen gleichfalls verwertbar sein, da hier keine die Wahrnehmungsfähigkeit des Zeugen übersteigende Anforderungen gestellt werden (vgl. BayOLG DAR 2001, 37; Hentschel/König/Dauer, a.a.O, § 3 StVO Rn 63). Die fehlende Verwertbarkeit von Aussagen von Zeugen im mittleren Geschwindigkeitsbereich von 50–70 km/h oder von über 100 km/h mit bekundeten Überschreitungen der vorgeschriebenen Geschwindigkeiten um 10–20 % wird in der Praxis allgemein angenommen (vgl. BayOLG VRS 65, 461M; BayOLG DAR 2005, 347; eingehend Hentschel/König/Dauer, a.a.O.).

Ob damit ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen über die Überschreitung einer Geschwindigkeit im oben umschriebenen "Unverwertbarkeitsbereich" als ungeeignetes Beweismittel zurückzuweisen ist, hängt davon ab, ob bei entsprechender Anwendung des § 244 Abs. 3 StPO die völlige Ungeeignetheit dieses Beweismittels feststeht. Die ZPO enthält keine Kodifizierung der Ablehnungsgründe von Beweisanträgen, sodass die zu § 244 Abs. 3 StPO entwickelten Gründe heranzuziehen sind (vgl. BGHZ 53, 245, 259; BGH VersR 1987, 71; BGH FamRZ 1994, 508). Die deutlichen Stellungnahmen der Rspr. zur fehlenden Eignung der von Zeugen abgegebenen Schätzungen von Geschwindigkeiten sprechen für eine zulässige Ablehnung des Beweisantrages (vgl. auch BGH FamRZ 1994, 508; BGH NJW 1986, 1542). Über die zu § 244 Abs. 3 S. 2 Alt. 4 StPO entwickelten Fallgruppen hinaus – bei denen die Unfähigkeit des Zeugen, etwa als Blinder oder bei situativer Unmöglichkeit des Treffens, bestimmte Beobachtungen zu machen, mit der Folge, dass eine bestimmte Wahrnehmung nicht möglich war, zugrunde gelegt werden (vgl. Frister, in: SK-StPO IV, § 244 Rn 145), dürfte die abverlangte Schätzung jedenfalls keine taugliche Grundlage für Feststellungen des Gerichts zur Bestimmung der Geschwindigkeit sein. Da mit dieser Begründung eine abgegeben Schätzung des Zeugen zur Geschwindigkeit im "Unverwertbarkeitsbereich" als wertlos in der Entscheidung des Gerichts bewertet wird, ist der dahin zielende Beweisantrag abzuweisen, mag er sich aus Sicht des Beweispflichtigen auch als einziges Begründungsmittel seiner Behauptung darstellen.

RiOLG a.D. Heinz Diehl, Neu-Isenburg

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