StVO § 8 Abs. 1 S. 1

Leitsatz

1. Fahrgassen auf Parkplätzen sind grundsätzlich keine dem fließenden Verkehr dienenden Straßen und gewähren deshalb keine Vorfahrt. Kreuzen sich zwei dem Parkplatzsuchverkehr dienende Fahrgassen eines Parkplatzes bzw. eines Parkhauses, gilt für die herannahenden Fahrzeugführer das Prinzip der gegenseitigen Rücksichtnahme (§ 1 StVO), d.h. jeder Fahrzeugführer ist verpflichtet, defensiv zu fahren und die Verständigung mit dem jeweils anderen Fahrzeugführer zu suchen.

2. Etwas anderes gilt nur dann, wenn die angelegten Fahrspuren eindeutig und unmissverständlich Straßencharakter haben und sich bereits aus ihrer baulichen Anlage ergibt, dass sie nicht der Suche von freien Parkplätzen dienen, sondern der Zu- und Abfahrt der Fahrzeuge. Für den Straßencharakter können eine für den Begegnungsverkehr ausreichende Breite der Fahrgassen und andere leicht fassbare bauliche Merkmale einer Straße wie Bürgersteige, Randstreifen oder Gräben sprechen. Fehlt es an solchen baulichen Merkmalen, muss die Ausgestaltung umso klarer durch die Fahrbahnführung und -markierung sein. Maßgeblich ist jedoch, dass die Funktion des § 8 Abs. 1 StVO, nämlich die Schaffung und Aufrechterhaltung eines (quasi) fließenden Verkehrs, auf der fraglichen Verkehrsfläche deutlich im Vordergrund steht. Eine Fahrgasse zwischen markierten Parkreihen ist daher keine Fahrbahn mit Straßencharakter, wenn die Abwicklung des ein- und ausparkenden Rangierverkehrs zumindest auch zweckbestimmend ist.

OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 22.6.2022 – 17 U 21/22

Sachverhalt

[1] I. Der Kläger wendet sich mit der Berufung gegen die Teilabweisung seiner Klage, mit der er die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls in Anspruch genommen hat.

[2] Der Kläger ist Eigentümer und Halter des Fahrzeugs Pkw1 mit dem amtlichen Kennzeichen … Der Beklagte zu 1 war zum Unfallzeitpunkt Halter und Fahrer des Fahrzeugs Pkw2 mit dem amtlichen Kennzeichen … , welches bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert war.

[3] Am XX.XX.2020 befuhr X mit dem Fahrzeug des Klägers den Parkplatz eines Baumarktes in Stadt1, dessen Betreiber für den Parkplatz die Geltung der StVO angeordnet hatte. Die von Herrn X benutzte Fahrgasse führt zur Ausfahrt des Parkplatzgeländes. In diese Fahrgasse münden von rechts mehrere Fahrgassen ein. Eine dieser Fahrgassen befuhr der Beklagte zu 1 mit seinem Fahrzeug, als es im Einmündungsbereich zum Zusammenstoß der Fahrzeuge der Parteien kam. In Fahrtrichtung links neben der von Herrn X benutzten Fahrgasse sind im rechten Winkel Parkboxen angeordnet. Rechts und links der einmündenden Fahrgassen befinden sich ebenfalls im rechten Winkel angeordnete Parkboxen. Wegen der Einzelheiten der Örtlichkeit sowie der Anstoßsituation der Fahrzeuge wird auf die Anlagen zum Gutachten des in erster Instanz tätigen Sachverständigen Y (Bl. 117 – 121 und 130 – 132 d.A.) Bezug genommen.

[4] Der Kläger hat die Beklagten wegen der an seinem Fahrzeug entstandenen Schäden auf Zahlung der Reparaturkosten gemäß Gutachten i.H.v. 6.002,25 EUR, der Gutachterkosten i.H.v. 933,07 EUR, einer allgemeinen Kostenpauschale i.H.v. 25,00 EUR und auf Ersatz eines merkantilen Fahrzeugminderwertes i.H.v. 650,00 EUR in Anspruch genommen. Darüber hinaus hat der Kläger die Zahlung von Verzugszinsen und die Erstattung vorgerichtlich angefallener Rechtsanwaltskosten verlangt.

[5] Das Landgericht hat nach Einholung des Gutachtens des Sachverständigen Y die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 2.068,76 EUR nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus 1.886,46 EUR seit dem 8.4.2020 und aus 182,31 EUR seit dem 10.7.2020 verurteilt. Im Übrigen hat das Landgericht die Klage abgewiesen.

[6] Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, der Kläger habe einen Anspruch gegen die Beklagten in der ausgeurteilten Höhe gem. § 7 Abs. 1 StVG, § 18 StVG, § 115 VVG. Die Beklagten hafteten für den entstandenen Schaden i.H.v. 25 %. Keiner der Parteien sei der Nachweis gelungen, dass der Unfall für sie ein unabwendbares Ereignis im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG darstelle. Im Verhältnis der beteiligten Fahrzeughalter hänge deshalb gem. § 17 Abs. 1 StVG die Verpflichtung zum Ersatz sowie zum Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen ab, insbesondere davon, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden sei. Bei der danach vorzunehmenden Abwägung sei zulasten des Klägers ein Vorfahrtverstoß gem. § 8 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 StVO zu berücksichtigen. Der Fahrer des klägerischen Fahrzeugs, der über die Einmündung hinaus geradeaus gefahren sei, hätte dem von rechts kommenden Beklagten zu 1 nach der Regel "rechts vor links" die Vorfahrt gewähren müssen. Die Vorschrift des § 8 Abs. 1 StVO sei auf dem öffentlich zugänglichen Parkplatz anwendbar. Die Geltung der StVO sei durch ein Verkehrsschild angeordnet worden. Inwieweit die Vorfahrtregel des § 8 Abs. 1 StVO auf einem Parkplatz Anwendung finde, hänge davon ab, ob die Fahrspuren led...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge