„ … Der Senat ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht davon überzeugt, dass der Kl. die Gesundheitsbeschädigung in Form der Amputation seiner linken Hand mit der Kettensäge als plötzlich von außen kommendes Unfallereignis am 10.3.2007 freiwillig erlitt.

Nach dem hier anwendbaren § 180a Abs. 1 VVG a.F. wird zugunsten des Versicherten und damit des Kl. bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass die Gesundheitsbeschädigung unfreiwillig erfolgte. Das bedeutet, dass die Bekl. entgegen der allgemeinen Regel die volle Beweislast dafür trägt, dass der Kl. sich die Hand mit der Kettensäge freiwillig, also zumindest bedingt vorsätzlich und damit aktiv (Grimm, § 1 AUB 99, Rn 39) amputierte. Diesen Beweis konnte sie nicht erbringen.

Zwar kann die Möglichkeit eines Unfalles ausgeschlossen werden, wenn dessen Annahme nach einer Gesamtschau aller Umstände (BGH VersR 1994, 1054) nur das Resultat einer Kette von Ungereimtheiten sein könnte, die in einer solchen Art und Häufung nur höchst theoretisch und so fern liegend denkbar sind, dass sie außer Betracht zu bleiben haben (OLG Koblenz VersR 1993, 874) und letzten Zweifeln Schweigen gebieten (OLG Köln VersR 2004, 1042). Auch an diesen Maßstäben gemessen ist der Senat nicht derart von der Freiwilligkeit der Gesundheitsverletzung überzeugt, dass letzten Zweifeln Schweigen geboten ist.

Das LG S hat zwar zu Recht durchaus beachtliche Auffälligkeiten und Unstimmigkeiten an dem vom Kl. geschilderten Unfallgeschehen aufgeführt. Diese genügen aber zur Widerlegung der Vermutung des § 180a Abs. 1 VVG a.F. nicht. Der Bekl. steht ein direktes Beweismittel nicht zur Verfügung und sie konnte den Beweis auch nicht indirekt führen. Denn der Sachverständige hält das vom Kl. geschilderte Unfallgeschehen zwar für nicht stimmig, aber nicht für ausgeschlossen. Es ist daher naturwissenschaftlich möglich und aus dem geschilderten Arbeitsvorgang vorstellbar (vgl. Knappmann, in Prölss/Martin, VVG, 28. Aufl. 2010, § 178 Rn 26). Der Kl. hat es im Kern auch nicht widersprüchlich oder falsch dargestellt (was auch das OLG Nürnberg zfs 1989, 28 für ganz wesentlich hielt). Dem Senat gegenüber hat sich der Kl. auch nicht als insgesamt unglaubwürdig dargestellt. Insb. unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Kl. und der besonderen Schwere der Verletzung und ihrer Folgen für den noch vergleichsweise jungen Kl. verbleiben beim Senat Zweifel an der Freiwilligkeit der Gesundheitsverletzung, die eine Überzeugung i.S.d. § 286 Abs. 1 ZPO verbieten.

Im Einzelnen waren für den Senat insb. folgende Gesichtspunkte erheblich:

a) Den direkten Beweis für die Freiwilligkeit der Verletzung konnte die Bekl. nicht erbringen. Insb. gibt es keine Zeugen, die den Kl. beim bewussten Absägen der Hand beobachtet hätten. Der Anscheinsbeweis ist nicht zulässig, denn es gibt keinen typischen Geschehensablauf für menschliche, willensgesteuerte Verhaltensweisen, insb. keine nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweisenden Motive für das Vortäuschen eines Versicherungsfalls, die so sehr auf gewöhnlichen und üblichen Umständen beruht, dass die besonderen individuellen Umstände zurückträten (s. nur BGH BGHZ 100, 214).

b) Die Bekl. konnte den Beweis aber auch nicht indirekt durch den – grds. zulässigen (Grimm, § 1 AUB 99, Rn 41) – Indizienbeweis erbringen.

aa) Von erheblicher Bedeutung für den Nachweis der Freiwilligkeit ist, inwieweit die Unfalldarstellung des Verletzten mit dem objektiven Geschehen vereinbar ist … Für die Freiwilligkeit der Gesundheitsschädigung spricht daher mit durchaus einigem Gewicht, dass der gerichtliche Sachverständige es aus medizinisch-biomechanischer Sicht zwar nicht für ausgeschlossen, aber für nicht nachvollziehbar und stimmig hält, dass die Verletzung in der vom Kl. geschilderten Weise erfolgt sein soll (wird ausgeführt).

Anders als die Bekl. vermag der Senat aus den Ausführungen des Sachverständigen dennoch nicht zu schließen, dass der Unfall nicht in der vom Kl. geschilderten Art erfolgt sein kann. Denn er hat seine Einschätzung nach dem Verständnis des Senats vorwiegend darauf gestützt, dass der geschilderte Ablauf sehr untypisch und daher unwahrscheinlich ist, ohne dass es wissenschaftliche Gründe für die von ihm als typisch erachteten Verhaltensmuster gibt. So hat er bspw. während der von ihm durchgeführten, rational gesteuerten Fallversuche keine Veranlassung gesehen, den Gashebel der Säge zu drücken. Die Frage, ob eine nicht rational gesteuerte Person im Fallen die Säge nicht dennoch zufällig an der Stelle besonders festgehalten hätte, an der sich der Gashebel befindet, lässt sich auch nach den Ausführen des Sachverständigen schlicht nicht beantworten. Denn er hat keine wissenschaftlich fundierte Aussage über typisches Fallverhalten von Menschen getroffen.

Nach dem Verständnis des Senats gibt es solch ein typisches Fallverhalten überhaupt nicht …

Allenfalls wenn zweifelsfrei feststünde, dass sich der Unfall nicht wie vom Kl. im Kern geschildert ereignet haben kann, stünde hiermit d...

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