StVG § 17; StVO § 7 Abs. 4

1. § 7 Abs. 4 StVO enthält eine Vorrangsregelung dahin, dass derjenige, der den durchgehenden Fahrstreifen befährt, Vorrang vor demjenigen hat, der auf seinem Fahrstreifen nicht durchfahren kann.

2. Eine Mithaftung des Bevorrechtigten kommt nur dann in Betracht, wenn er die Gefahr einer Kollision auf sich zukommen sehen musste und unfallverhütend reagieren kann; dann kann an eine Mithaftungsquote von ¼ gedacht werden.

KG, Beschl. v. 19.10.2009 – 12 U 227/08

Der Kläger hat die Beklagten auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall aus dem Jahre 2007 in Anspruch genommen. Die Zeugin B fuhr mit dem Fahrzeug des Klägers auf der rechten von drei Geradeausspuren. Auf dieser Spur befand sich eine Baustelle, sodass die Zeugin B auf die mittlere Spur wechseln musste. Der auf der mittleren Spur fahrende Beklagte zu 1) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Lkw den mittleren Fahrstreifen, auf dem er mit dem Fahrzeug des Klägers kollidierte. Das LG hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass für eine ausschließliche Haftung des Klägers spreche, dass die Zeugin B einen Fahrstreifenwechsel vorgenommen habe, was den Beweis des ersten Anscheins für ihre für den Unfall ursächliche Sorgfaltspflichtverletzung begründe. Die Berufung des Klägers, mit der er sein erstinstanzliches Klagebegehren weiter verfolgt, wendet sich gegen die Annahme eines gegen die Fahrerin des Fahrzeuges des Klägers sprechenden Anscheinsbeweises. Dabei bleibe unberücksichtig, das es sich um ein sog. Reißverschlussverfahren handele. Gegen die Annahme fehlenden Verschuldens des Beklagten zu 1) spreche es auch, dass er das Fahrzeug des Klägers schlicht übersehen habe.

Der Senat wies den Kläger auf die fehlende Erfolgsaussicht seiner Berufung hin.

Aus den Gründen:

“Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg. Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung erfolgreich nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder nach § 529 ZPO zu Grunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.

Beides ist hier nicht der Fall.

1. Das LG hat einen Schadensersatzanspruch des Klägers aus §§ 7, 17 StVG, 823 BGB, 3 Nr. 1 PflVG zu Recht verneint. Unstreitig hat die Zeugin B mit dem klägerischen Fahrzeug wegen eines Hindernisses auf ihrer Fahrspur einen Fahrstreifenwechsel nach links vorgenommen. Damit spricht aber – wie das LG zutreffend ausgeführt hat – der Beweis des ersten Anscheins gegen die Fahrerin des Klägerfahrzeugs.

Soweit der Kläger meint, der Anscheinsbeweis würde im Hinblick auf das ‘Reißverschlussverfahren’ nicht gelten, verhilft dies der Berufung nicht zum Erfolg. Die Anwendung der Grundsätze des ‘Reißverschlussverfahrens’ (§ 7 Abs. 4 StVO) führt nicht zu einer Haftung der Beklagten. § 7 Abs. 4 StVO bestimmt Folgendes:

‘Ist auf Straßen mit mehreren Fahrstreifen für eine Richtung das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich oder endet ein Fahrstreifen, so ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge unmittelbar vor Beginn der Verengung jeweils im Wechsel nach einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können (Reißverschlussverfahren).’

Nach st. Rspr. beider Verkehrssenate des Kammergerichts enthält § 7 Abs. 4 StVO eine Vorrangsregelung dahin, dass derjenige, der den durchgehenden Fahrstreifen befährt, Vorrang hat vor demjenigen, der auf seinem Fahrstreifen nicht durchfahren kann (vgl. KG, Urt. v. 17.5.1979 – DAR 1980, 186 = VM 1980 Nr. 27; Urt. v. 29.9.1983 – VM 1984, 23 Nr. 25; Urt. v. 8.1.1987 – VM 70 Nr. 82; Urt. v. 7.6.1990 – VM 1990, 91 Nr. 118; Urt. v. 23.10.1995 – VM 1996, 21 Nr. 27).

Eine Mithaftung der Beklagten käme nur dann in Betracht, wenn feststünde, dass der Erstbeklagte die Gefahr der Kollision auf sich hätte zukommen sehen müssen, er also hätte erkennen müssen, dass die Zeugin B ihm – trotz der Baustelle im Bereich ihres Fahrstreifens – den Vortritt nicht gewähren würde. In einem derartigen Fall kann eine Sorgfaltspflichtverletzung des bevorrechtigten Erstbeklagten vorliegen (Verstoß gegen §§ 1 Abs. 2, 11 Abs. 2 StVO) mit der Folge, dass dieser auf seinen Vorrang hätte verzichten müssen. Dann könnte an eine Mithaftungsquote von ¼ gedacht werden (vgl. KG, Urt. v. 17.5.1979 – 22 U 702/79).

2. Zutreffend hat das LG nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen können, dass für den Erstbeklagten der Fahrspurwechsel des Klägerfahrzeugs erkennbar war, er mithin damit rechnen musste, dass das Klägerfahrzeug sich im Reißverschlussverfahren in seine Fahrspur einordnen würde: das LG hat auch nicht feststellen können, dass die Klägerin nach dem Reißverschlussverfahren an der Reihe war, nach links zu wechseln. Dies geht zu Lasten des insoweit beweisbelasteten Klägers.

a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das BG seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten ...

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