[11] "I. Das LG hat nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht Ansprüche des Kl. verneint. Das Erstgericht hat eine unzureichende Beweisaufnahme durchgeführt und eine wenig überzeugende Beweiswürdigung vorgelegt.

[12] 1. Die Gründe des angefochtenen Urt. lassen nicht erkennen, ob der Erstrichter die Unterscheidung zwischen Primär- (HWS-Distorsion) und Sekundärverletzung (Tinnitus) und das sich hieraus ergebende unterschiedliche Beweismaß beachtet hat. Der Erstrichter hätte im Rahmen seiner Beweiswürdigung für die Prüfung der HWS-Distorsion das Beweismaß des § 286 ZPO zugrunde legen müssen, während im Falle des Nachweises einer Primärverletzung für die Prüfung des Tinnitus das Beweismaß des § 287 ZPO genügt hätte.

[13] Nach § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht währ zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 339; Senat NZV 2006, 261; Urt. v. 28.7.2006 – 10 U 1684/06 [juris], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 11.6.2010 – 10 U 2282/10) – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine “an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit’, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad anGewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245, 256 = NJW 1970, 946, st. Rspr., insbesondere NJW 1992, 39, 40 und zuletzt VersR 2007,1429, 1431 unter II 2; Senat a.a.O.).

[14] Im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an seine Überzeugungsbildung gestellt. Hier genügt, je nach Lage des Einzelfalls, eine höhere oder deutlich höhere oder überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung (ausführlich BGH VersR 1970, 924, 926 f.; NJW 1994, 3295 ff.; 2003, 1116, 1117; 2004, 777, 778; Senat NZV 2006, 261, 262; r+s 2006, 474 m. zust Anm. von Lemcke = NJW-Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann [Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 8.5.2007 – VI ZR 29/07 zurückgewiesen], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 19.3.2010 – 10 U 3870/09). § 287 ZPO entbindet aber nicht vollständig von der grundsätzlichen Beweislastverteilung und erlaubt es nicht, zu Gunsten des Beweispflichtigen einen bestimmten Schadensverlauf zu bejahen, wenn nach den festgestellten Einzeltatsachen “alles offen’ bleibt oder sich gar eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für das Gegenteil ergibt (so BGH VersR 1970, 924, 927; Senat NZV 2006, 261 und Urt. v. 28.7.2006 – 10 U 1684/06).

[15] Ferner ist zu berücksichtigen, dass auch bei der Ermittlung des Kausalzusammenhangs zwischen dem unstrittigen oder bewiesenen Haftungsgrund (Rechtsgutverletzung) und dem eingetretenen Schaden der Tatrichter nicht den strengen Anforderungen des § 286 ZPO unterliegt; vielmehr ist er auch hier nach Maßgabe des § 287 ZPO freier gestellt (st. Rspr., vgl. BGHZ 4, 192, 196 = NJW 1952, 301; 126, 217 ff. = NJW 1994, 3295 ff.; VersR 1968, 850, 851; 1975, 540, 541; NJW-RR 1987, 339; NJW 2003, 1116, 1117; 2004, 777, 778; Senat NZV 2006, 261, 262; r+s 2006, 474 m. zust. Anm., von Lemcke = NJW-Spezial 2006, 546 m. zust. Anm. von Heß/Burmann [Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH durch Beschl. v. 8.5.2007 – VI ZR 29/07 zurückgewiesen]). Allerdings kann der Tatrichter eine haftungsausfüllende Kausalität auch nur dann feststellen, wenn er von diesem Ursachenzusammenhang überzeugt ist.

[16] Ohne auf diese Unterscheidung einzugehen, führt der Erstrichter lediglich aus, dass der Kl. nicht beweisen konnte, durch den Unfall verletzt worden zu sein. Ob er bereits die behaupteten Beschwerden als nicht nachgewiesen ansieht oder lediglich von der Unfallkausalität nicht überzeugt ist und welchen Maßstab er hierbei für seine Überzeugungsbildung angesetzt hat, lässt sich dem Urteil nicht entnehmen.

[17] 2. Bereits die Beweiserhebung über die behauptete HWS-Verletzung und die behaupteten akuten Ohrenschmerzen waren für eine sichere Beurteilung nicht ausreichend, weil allein mit der Einholung des biomechanischen Sachverständigengutachtens, welches lediglich von einem technischen Sachverständigen erstellt worden ist, die Wahrscheinlichkeit dieser Beschwerden nicht verneint werden konnte. Dies umso mehr, als im konkreten Fall der Sachverständige R zu dem unfallanalytischen Ergebnis gekommen ist, dass sich die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung in einem Rahmen bewegt, bei dem es zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen kommen kann und er sogar ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass diese Bewertung der medizinischen Beurteilung vorbehalten bleibt (Blatt 36 d.A.).

[18] Eine medizinische Beurteilung, inwieweit der streitgegenständliche Unfall eine HWS-Verletzung oder Ohrenschmerzen verursacht hat, ist gleichwohl nicht erfolgt. Das vom Gericht eingeholte Gutachten des Sachverständigen Dr. med. E beschränkte sich gemäß Beweisbeschluss vom 2.2.2009 ausdrücklich auf die Prüfung, o...

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