Der hier beschriebene "Umbruch" in der Rechtsprechung seit dem Jahr 2013 ist eigentlich eine Rückbesinnung auf die Vorgaben des BGH zur Bestimmung einer Obliegenheitsverletzung. Wegen der großen Zahl der Motorradunfälle ist die vergleichsweise geringe Anzahl bislang veröffentlichter obergerichtlicher Entscheidungen erstaunlich. Angesichts der oben aufgezeigten Rechtsprechung ist eine pauschal begründete Mithaftung aufgrund fehlender Schutzkleidung jedenfalls nicht berufungsfest.

Obgleich die behandelten Entscheidungen eine Obliegenheitsverletzung im Ergebnis ablehnen, finden sich in den Urteilsgründen oft obiter dicta [zu] eindeutige[n] Tendenzen, welche bereits jetzt eine Kasuistik erlauben:[29]

Motorisierte Zweiradfahrer werden nicht generell als eine Verkehrsgruppe angesehen, sondern sind nach dem konkreten Fahrzeugtypus zu differenzieren. Je stärker motorisiert der Fahrer unterwegs ist, umso mehr Vorkehrungen sind angebracht.
Unabhängig hiervon ist zwischen Fahrten innerorts und außerorts zu unterscheiden.[30] Bei Fahrten außerhalb von Ortschaften wird auch immer die benutzte Straßenart (Kraftfahrstraße, Flurweg etc.) zu berücksichtigen sein. Mit den geringeren Geschwindigkeiten im Stadtverkehr besteht ein (relativ) kleineres Verletzungspotential.
Die Jahreszeit und die Witterung zum Unfallzeitpunkt sind relevant für die Frage der Repräsentativität der herangezogenen Studie. Die BASt gibt bspw. an, dass sie ihre Stichproben für Zweiräder an sechs Standorten im Bundesgebiet jeweils im Juni und September vornimmt.[31] Dies sagt dennoch nichts über die konkreten Temperaturen aus. Es wird nicht von der Hand zu weisen sein, dass die Witterung in aufeinanderfolgenden Jahren unterschiedlich ausfällt und einen erheblichen Einfluss auf die Bekleidung der Zweiradfahrer, mithin also auf deren Verkehrsbewusstsein hat. Dies würde auch die starken Schwankungen zwischen den jährlichen Ergebnissen erklären.
Die bislang herangezogenen bzw. vorgebrachten Umfrageergebnisse, Statistiken und Erhebungen sind den Gerichten derzeit zu ungenau. Nachdem sich in den letzten Jahren hieran wenig geändert hat, wird dies auch für die nahe Zukunft so bleiben. In der BASt-Statistik war der Stichprobenumfang zudem sehr gering (im Pandemiejahr 2020 nur 84 Fahrer!), weshalb die Bundesanstalt selbst dazu rät, ihre Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren.[32]

Jedenfalls aktuell wird die Darlegung des einschlägigen Verkehrsbewusstsein daher oft an verfügbaren amtlichen Erhebungen scheitern. Die einstandspflichtigen Versicherer werden jedoch auch weiterhin in vielen Fällen eine Mithaftung einwenden und sich im Hinblick auf die verkürzten Aussagen in der Fachliteratur im Recht wähnen. Hier hat der Geschädigte die tatsächliche Rechtslage aufzuzeigen und im Zweifel auch gerichtlich durchzusetzen. Eine Veröffentlichung zukünftiger Urteile zu diesem Thema ist wünschenswert.

[29] Zum nunmehr überholten Stand von 2014 vgl. Rebler, MDR 2014, 1187.
[30] Den Grund hierfür hat das Landgericht Heidelberg (a.a.O.) anschaulich verdeutlicht: Bei Radfahrern wird das Tragen von Ganzkörperprotektoren überhaupt nicht thematisiert. Mitunter erreichen Rennradfahrer aber Geschwindigkeiten von bis zu 45 km/h, was der bauartbedingten Höchstgeschwindigkeit von Kleinkrafträdern entspricht und an die innerörtliche Höchstgeschwindigkeit heranreicht. Angesichts des rapide steigenden Anteils von E-Bikes gleicht sich innerorts das Verkehrsrisiko zwischen Krad und Rad an.
[32] Auch im Jahr 2019 wurden nur 118 Fahrer erfasst: https://www.bast.de/DE/Service/Social-Media/Posts/2020-02.html.

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