Verdienstausfall und andere Formen des Erwerbsschadens werden nach der Differenzhypothese aus dem Vergleich zwischen dem tatsächlich erzielten und dem hypothetischen, also ohne das Haftungsereignis zu erwartenden, Erwerbseinkommen errechnet. Ein solcher Vergleich lässt sich bei Personen, die bereits im Erwerbsleben "angelangt" sind, für den Regelfall ohne allzu große Probleme anstellen. Wie aber ist die Lage bei Geschädigten zu beurteilen, bei denen die berufliche Entwicklung noch ganz am Anfang steht oder sich noch gar nicht abzeichnen lässt? Welchen beruflichen Weg hätten im Kindesalter oder als Jugendliche Verletzte ohne die Verletzung eingeschlagen, welche berufliche Karriere hätte sie erwartet, wie viel Einkommen hätten sie mit ihrer beruflichen Tätigkeit und in welchen Zeiträumen hätten sie dieses erzielt? All dies lässt sich kaum verlässlich herausarbeiten. Und: Je jünger der Verletzte ist, desto schwieriger ist die Aufgabe. Persönliche Fähigkeits- oder Leistungsmerkmale, die am ehesten einen ansatzweise verlässlichen Schluss auf spätere berufliche Meriten zulassen würden, sind etwa bei einem Säugling, der einen Geburtsschaden erlitten hat, oder bei einem Dreijährigen, der bei einem Verkehrsunfall verletzt wird, nicht einmal im Ansatz vorhanden. Aber auch bei einem achtjährigen Grundschüler wird man in aller Regel nur wenige Anhaltspunkte finden, die eine verlässliche Prognose der späteren beruflichen Entwicklung ohne Eintritt der Verletzung zulassen würde. Kurzum: In solchen Fällen besteht eine besondere Ungewissheit der hypothetischen Entwicklung und damit ein weiteres Prognoserisiko, das in der gerichtlichen Auseinandersetzung die ohnehin bestehende Unsicherheit richterlichen Schätzungsermessens weiter erhöht.

Dass die damit einhergehende Unsicherheit kein neues Problem ist, zeigt der Umstand, dass "das Zukunftsrisiko bei jugendlichen Verkehrsopfern" bereits Gegenstand eines Verkehrsgerichtstages gewesen ist, um genau zu sein des 22. VGT 1984.[2] Überhaupt ist das Thema damals, in den früheren 80er Jahren, mehrfach untersucht worden, insbesondere in einem grundlegenden Aufsatz von Steffen in der DAR 1984, dessen Feststellungen auch heute noch in weitem Umfang aktuell sind. Die Empfehlung, die der damalige Arbeitskreis VI in Bezug auf die Bemessung des Erwerbsausfallschadens abgegeben hatte, lässt freilich erahnen, welche Schwierigkeiten bestehen, das Prognoserisiko durch Festlegung von Schätzungsparametern in den Griff zu bekommen. Sie lautet:

"Bei der Bemessung des Erwerbsausfallschadens ist in allen Fällen, in denen vor dem Unfall Besonderheiten nicht aufgetreten sind, davon auszugehen, dass ein Kind oder ein Jugendlicher mit irreparablen Hirnschäden, die eine Berufsausbildung ausschließen, im Regelfall mindestens den Hauptschulabschluss, bei einer Verletzung nach Eintritt in die erste Klasse einer weiterführenden Schule den Realschulabschluss erreicht hätte."

Diese Empfehlung ist – soweit ich es erkennen kann – in der forensischen Praxis nicht angenommen worden. Man brauchte diesen Ansatz letztlich auch nicht, denn man hat sich anders beholfen. Wie, das soll Gegenstand dieser das Thema des Arbeitskreises einleitenden Abhandlung sein.

[2] Vgl. dazu die Aufsätze von Funk in Deutscher Verkehrsgerichtstag 22, S. 226 f.; Riesenbeck, ebendort, S. 248 f. und Jochheim, ebendort, S. 216 f.

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