1. Grundsätzliche Problemstellung

Das Phänomen psychischer Schäden auf Grund von Unfällen hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutlich verstärkt. Dies gilt sowohl für originäre primäre psychische Schäden (Unfallschock) als auch für sekundäre psychische Schäden auf Grund von physischen Schäden (schwere Schädelhirntraumata, die Psyche belastende körperliche Dauerschäden, nicht zuletzt aber auch das Massenphänomen der HWS-Schleudertraumata).

Die starke Zunahme dieser psychischen Beschwerden ist kein isoliertes Unfallphänomen. Sie findet sich allgemein in der Gesellschaft wieder – z.B. auch im Bereich des Berufslebens in Form des Burn-Out-Syndroms und von Mobbing-Belastungen. Wenn aber in der allgemeinen Bevölkerung psychische Beschwerden zunehmen, kann es nicht ausbleiben, dass auch nach Unfällen ein immer größerer Anteil von Geschädigten psychische Beschwerden beklagt. Sehr anschaulich haben dies bereits Rehfeldt, Sittaro und Wehking in ihrem Aufsatz "Banale Unfälle und seelische Schäden" im Jahre 2000 dargestellt.[3]

Die Haftpflichtversicherer stehen nun vor der schwierigen Aufgabe, ihrer Verpflichtung, die unfallbedingten Schäden – aber auch nur diese – korrekt zu regulieren. Bringt der Geschädigte eine bereits vor dem Unfall bestehende und damit unfallunabhängige persönliche Vorbelastung psychischer/seelischer Art mit, ist die Abgrenzung und die Bewertung des hypothetischen Verlaufs sehr schwierig. Dies gilt nicht nur für den mit der Sache befassten Mediziner, sondern auch für den Juristen, der praxistaugliche Entschädigungskriterien benötigt. Es geht dabei nicht nur um abstrakte rechtsdogmatische Ansätze, sondern für die Regulierungspraxis sind pragmatische wirtschaftliche Erwägungen für beide Seiten (Geschädigter und Schadensersatzpflichtiger) mit dem – hoffentlich gemeinsamen – Ziel einer letztlich angemessenen Entschädigung mindestens ebenso wichtig.

Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund einige rechtliche Ausführungen gemacht werden und strategische Überlegungen angestellt werden.

[3] VersWirtschaft 13/2000, 929 ff.

2. Prüfung der grundsätzlichen Einstandspflicht des Unfallverursachers für psychische Schäden

Zivilrechtlich reicht nach ständiger Rechtsprechung für die Ersatzpflicht aus, wenn der Unfall "der letzte Tropfen" ist, der zum Schadeneintritt führt. Mögen die Vorerlebnisse und Vorbeschwerden auch noch so vielfältig sein, kommt es entscheidend lediglich darauf an, dass durch den Unfall die – u.U. sehr kleine – Schwelle zum konkreten Schaden überschritten wird. Eine Zurechnung erfolgt dabei nicht nur dann, wenn der schädigende Erfolg erst durch Hinzutreten einer Mitursache herbeigeführt wird, sondern bereits dann, wenn der Schaden durch das Hinzutreten der Mitursache vergrößert wird. Auch im letzteren Fall haftet der Schädiger für den Gesamtschaden.[4]

Es findet also eine sehr strikte und im Einzelfall durchaus dramatische Anwendung des zivilrechtlichen Kausalitätsbegriffs statt. Im vorerwähnten Aufsatz von Rehfeldt, Sittaro und Wehking wird formuliert "das Ereignis ist banal, das Ergebnis katastrophal" – man könnte auch sagen "fatal".

Angesichts des nicht selten sehr schmalen Grades zur Schadensverwirklichung führt der extrem weite zivilrechtliche Kausalitätsbegriff manchmal zu unbilligen Ergebnissen. Deshalb hat die Rechtsprechung versucht, Extremfälle zu vermeiden und die Ersatzpflicht insoweit eingeschränkt, als der Unfall ein Ereignis hinreichender Schwere und Intensität darstellen und ein innerer Zusammenhang zwischen Unfall und Verletzung bestehen muss sowie die psychische Beeinträchtigung nicht außer Verhältnis zur Ursache steht;[5] ansonsten fehlt es am haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang.

Es handelt sich um ein gewisses Korrektiv beim zivilrechtlich weiten Kausalitätsbegriff im Vergleich zum sozialrechtlichen Begriff der wesentlichen Ursache/richtungweisenden Verschlimmerung. Steht die psychische Reaktion in einem groben Missverhältnis zu ihrem Anlass, dass sie schlechterdings unverständlich ist, können die psychischen Folgeschäden dem Schädiger nicht mehr zugerechnet werden.[6] Handelt es sich um einen Unfall mit ganz geringen Verletzungsfolgen und steht die psychische Reaktion des Geschädigten hierauf in einem groben Missverhältnis zum Anlass, kommt ausnahmsweise eine Haftungsbegrenzung in Betracht.[7]

Um den haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang zu verneinen, muss es sich bei sekundären psychischen Schäden bei der primären physischen Verletzung um eine "Bagatellverletzung" handeln, d.h. um Beeinträchtigungen, die sowohl von der Intensität als auch der Art der Primärverletzung her ganz geringfügig sind und üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken, weil er schon auf Grund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewöhnt ist, vergleichbare Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein.[8] Bei primären psychischen Schäden muss der Unfall selbst eine Bagatelle sein – also nach seinem Verlauf und seinen Auswirkungen kein verständlicher Anlass für psychische Reaktionen bestehen, die über das Maß dessen hinausgeht, was im Alltagsleben vorkommt. Eine Ausnahme gilt, wenn...

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