GG Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1; OWiG § 46 Abs. 1; StPO § 100h Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1

Leitsatz

1. Das Vorliegen von Verfahrenshindernissen ist auf ein zulässiges Rechtsmittel durch das Rechtsmittelgericht von Amts wegen zu prüfen. Ist dem Rechtsmittelgericht auf Grund eines zulässigen Rechtsmittels die Prüfung der angefochtenen Entscheidung eröffnet, untersucht es von Amts wegen nicht nur, ob im Anschluss an diese Entscheidung Verfahrenshindernisse eingetreten sind, sondern auch, ob der Tatrichter Verfahrenshindernisse übersehen oder zu Unrecht unberücksichtigt gelassen hat.

2. Nach dem Grundsatz des Vorrangs der Sachentscheidung ist unter Umständen auch bei eingetretener Verjährung keine Einstellung des Verfahrens, sondern ein Freispruch geboten.

3. Angesichts der Funktionsweise der Abstands- und Geschwindigkeitsmessanlage VKS 3.01 des Herstellers VIDIT begegnet die Verwertung der damit gewonnenen Videosequenzen im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung keinen Bedenken.

(Leitsätze der Schriftleitung)

Thüringer OLG, Beschl. v. 29.10.2010 – 1 Ss Bs 45/10 (287)

Sachverhalt

Der Betroffenen wird vorgeworfen, am 30.4.2009 gegen 18.38 Uhr auf der Bundesautobahn als Führerin eines Pkw die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 43 km/h überschritten zu haben. Wegen dieser Verkehrsordnungswidrigkeit wurde gegen die Betroffene mit Bußgeldbescheid vom 23.6.2009 eine Regelgeldbuße von 160 EUR sowie ein einmonatiges Regelfahrverbot festgesetzt. Auf den hiergegen form- und fristgerecht erhobenen Einspruch der Betroffenen wurde die Akte nach § 69 Abs. 3 S. 1 OWiG an das AG Arnstadt übersandt, wo sie am 23.9.2009 einging. In ihrer Übersendungsverfügung an das AG teilte die Staatsanwaltschaft Erfurt mit, dass sie einer Entscheidung durch Beschluss nicht widerspreche.

Mit Verfügung vom 7.1.2010 fragte die zuständige Tatrichterin unter Vorlage der Akte bei der Staatsanwaltschaft Erfurt an, ob im Hinblick auf ein von ihr angenommenes Beweisverwertungsverbot bezüglich der mittels des Messsystems VKS 3.01 hergestellten Videoaufzeichnungen einer Einstellung nach § 47 Abs. 2 OWiG zugestimmt werde. Mit Verfügung vom 23.2.2010 sandte die Staatsanwaltschaft Erfurt unter Verweigerung der Zustimmung die Akte an das AG zurück, wo sie am 1.3.2010 einging.

Mit Beschl. v. 15.4.2010 hat das AG Arnstadt die Betroffene mit der Begründung freigesprochen, der Verkehrsverstoß könne ihr nicht nachgewiesen werden, weil das von der Verkehrsüberwachungsanlage aufgezeichnete Beweisvideo wegen Verstoßes gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung unverwertbar sei.

Auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft stellt das OLG das Verfahren ein.

2 Aus den Gründen:

" … II. … 2. [7] Die zulässige Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Einstellung des Verfahrens, da das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung vorliegt."

[8] a) Verfahrensvoraussetzungen und Verfahrenshindernisse sind Umstände, die so schwer wiegen, dass von ihrem Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im Ganzen abhängt und die nicht nur im Interesse des Betroffenen, sondern auch im allgemeinen Interesse gegeben sind (vgl. BGH, Beschl. v. 13.12.2000, 2 StR 56/00, bei juris m.w.N.). Das Vorliegen von Verfahrenshindernissen ist auf ein zulässiges Rechtsmittel, auch wenn dieses – wie hier – zuungunsten des Betroffenen von der Staatsanwaltschaft eingelegt worden ist, durch das Rechtsmittelgericht von Amts wegen zu prüfen. Ist dem Rechtsmittelgericht auf Grund eines zulässigen Rechtsmittels die Prüfung der angefochtenen Entscheidung eröffnet, untersucht es von Amts wegen nicht nur, ob im Anschluss an diese Entscheidung Verfahrenshindernisse eingetreten sind, sondern auch, ob der Tatrichter Verfahrenshindernisse übersehen oder zu Unrecht unberücksichtigt gelassen hat (vgl. BGHSt 16, 115; BGH, a.a.O.; OLG Koblenz, Beschl. v. 12.8.2008, 2 Ss Bs 54/08, bei juris; OLG Oldenburg, Beschl. v. 14.10.2008, Ss 337/08, bei juris). Für den besonderen Fall der Rechtsbeschwerde in Bußgeldsachen wird dies durch die Regelung des § 80 Abs. 5 OWiG bestätigt, der (nur) für die Fälle der zulassungsbedürftigen Rechtsbeschwerde eine beschränkte Berücksichtigung von Verfahrenshindernissen vorsieht. Aus dieser Ausnahmeregelung folgt, dass umgekehrt in den Fällen der nicht zulassungsbedürftigen Rechtsbeschwerde Verfahrenshindernisse (auf eine zulässige Rechtsbeschwerde) ohne Beschränkung zu berücksichtigen sind (vgl. OLG Oldenburg, a.a.O.).

[9] b) Im vorliegenden Fall liegt das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung vor, da die der Betroffenen vorgeworfene Geschwindigkeitsübertretung bereits bei Erlass des angefochtenen Beschlusses verjährt gewesen ist.

[10] Die für die vorliegende Verkehrsordnungswidrigkeit nach § 26 Abs. 3 StVG zunächst drei Monate betragende Verjährungsfrist hat nach § 31 Abs. 3 S. 1 OWiG am Tattag, dem 30.4.2009 zu laufen begonnen. Durch den Erlass des der Betroffenen alsbald zugestellten Bußgeldbescheides a...

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