1. Pflichtteilsansprüche erweisen sich in der Praxis immer wieder als ein erheblicher Störfaktor für die Nachfolgeplanung. Der naheliegenden Möglichkeit, den Nachlass durch Schenkungen zu Lebzeiten auszuhöhlen, hat bereits der BGB-Gesetzgeber einen Riegel vorgeschoben (§ 2325 BGB). Schenkungen in den letzten 10 Jahren vor dem Tod des Erblassers mindern den Nachlass grundsätzlich nicht bzw. nur anteilig (§ 2325 Abs. 3 BGB, Art. 229 § 23 Abs. 4 S. 2 EGBGB). Die 10-Jahres-Frist beginnt nach Auffassung des BGH allerdings gar nicht zu laufen, wenn der Erblasser den Vermögensgegenstand nur rechtlich (nicht aber auch wirtschaftlich) auf einen Dritten übertragen hat und den "Genuß" an dem verschenkten Gegenstand bis zum Erbfall nicht entbehrt hat. In einem mittlerweile über zwanzig Jahre alten Grundsatzurteil hat der BGH entschieden, dass bei einer Grundstücksübertragung unter Vorbehaltsnießbrauch die 10-Jahres-Frist nicht zu laufen beginnt (BGH, Urt. v. 27.4.1994, IV ZR 132/93, BGHZ 125, 395 = NJW 1994, 1791). Seitdem wird kontrovers darüber diskutiert, ob die Frist nicht zumindest dann zu laufen beginnt, wenn sich der Schenker keinen vollständigen Nießbrauch, sondern nur einen Bruchteils- oder Quotennießbrauch oder sogar nur ein Wohnungsrecht vorbehält (s. statt vieler Lange, in: MüKo-BGB, 6. Auflage 2013, § 2325 Rn 62 ff mwN).
2. Der jetzigen Entscheidung des BGH lag ein beinahe alltäglicher Sachverhalt zugrunde: Im Jahr 1993 haben die Eltern ihrem gemeinsamen Sohn A ein Grundstück (mit einem aus Erd-, Ober- und Dachgeschoss bestehenden Wohnhaus) übertragen und sich dabei u. a. ein Wohnungsrecht an den Räumen im Erdgeschoss vorbehalten. Die Räume im Ober- und Dachgeschoss wurden überwiegend von dem beschenkten Sohn bewohnt. Im Jahr 2012 ist der Vater verstorben und wurde aufgrund eines Testaments von seiner Ehefrau (der Mutter des Beschenkten) alleine beerbt. Der weitere Sohn B macht wegen der Grundstücksschenkung seinen Pflichtteilsergänzungsanspruch geltend (§§ 2303 ff, 2325 BGB). Die Klage war in allen Instanzen erfolglos.
3. Der BGH hält (trotz Kritik im Schrifttum) an seiner bisherigen Rechtsprechung fest. Die 10-Jahres-Frist beginnt grundsätzlich mit dem Eintritt des Leistungserfolges, hier mit der Eigentumseintragung des Beschenkten im Grundbuch. Allerdings liege eine Leistung erst dann vor, wenn der Erblasser nicht nur seine Rechtsstellung als Eigentümer endgültig aufgibt, sondern auch darauf verzichtet, den verschenkten Gegenstand aufgrund vorbehaltener (dinglicher oder schuldrechtlicher) Rechte "im Wesentlichen weiterhin zu nutzen". An dieser Rechtslage hat sich nach Auffassung des BGH auch durch das am 1.1.2010 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des Erbrechts (BGBl I 2009, S. 3142) nichts geändert. Der Vorbehalt eines umfassenden Nießbrauchrechts hindert somit weiterhin den Fristbeginn.
Nießbrauch und Wohnungsrecht sind insoweit nicht gleich zu behandeln. Der BGH betont vielmehr die rechtlichen Unterschiede zwischen Nießbrauch (als umfassendem Nutzungsrecht, §§ 1030 ff BGB) und Wohnungsrecht (als einer beschränkt persönlichen Dienstbarkeit, §§ 1093, 1090 ff BGB). Allerdings kann bei einem Wohnungsrecht nicht stets von einem Fristbeginn ausgegangen werden. Vielmehr komme es auf die "Umstände des Einzelfalls" an.
Im Ausgangsfall haben wohl vor allem folgende drei Umstände für den Fristbeginn gesprochen: (1) Das Wohnungsrecht bestand nur an "Teilen des Grundstücks" (Räumen im Erdgeschoss), sodass die Schenker nicht mehr als "Herr im Hause" anzusehen waren. (2) Die Ausübung des Wohnungsrechts konnte Dritten nicht überlassen werden (s. § 1092 Abs. 1 S. 2 BGB). (3) Die Schenker konnte das Haus nicht mehr in der "bisherigen Art und Weise nutzen".
Der BGH stellt dabei allein auf die rechtlich vereinbarten Nutzungsmöglichkeiten ab. Der Umstand, dass die Eltern hier neben den Räumen im Erdgeschoss tatsächlich auch Räume im Obergeschoss mitbenutzt haben, ist insoweit ohne Bedeutung. Schließlich wurde der Fristlauf nach Auffassung des BGH auch nicht dadurch gehindert, dass die Vertragsparteien neben dem Wohnungsrecht noch ein (schuldrechtliches) Veräußerungs- und Umbauverbot vereinbart hatten.
Bei Übertragung von Grundstücken unter Vorbehalt eines Wohnungsrechts beginnt die 10-Jahres Frist für die Pflichtteilsergänzung somit – im Regelfall – mit der Grundbuchumschreibung zu laufen. Nur in "Ausnahmefällen" (die der BGH allerdings nicht näher umschreibt) sei der Fristbeginn gehindert.
4. Fazit: Die Entscheidung des BGH ist zu begrüßen. Das Urteil schafft zwar keine vollständige Rechtssicherheit, gibt der Kautelarpraxis aber doch gewisse Kriterien an die Hand, um die Formel des "wesentlichen Weiternutzens" zu konkretisieren. Ein vorbehaltenes Wohnungsrecht bietet insoweit mehr Gestaltungsmöglichkeiten als ein Nießbrauch. Im Ergebnis ist es eine der wenigen Entscheidungen des IV. Zivilsenats des BGH, bei denen der Pflichtteilsberechtigte nicht obsiegt hat.
Dr. Thomas Wachter, Notar, München
ZErb 9/2016, S. 266 - 269