1. Problemdarstellung

Der Entziehungsgrund des § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB verlangt, dass der Pflichtteilsberechtigte zu einer Freiheitsstrafe "rechtskräftig verurteilt wird." Das rechtskräftige Urteil muss allerdings nicht zum Zeitpunkt der Entziehung, ja noch nicht einmal zum Zeitpunkt des Erbfalls vorliegen. Vielmehr lässt es § 2336 Abs. 2 S. 2 BGB ausreichen, dass im Moment der Errichtung der letztwilligen Verfügung die Tat begangen ist. Der Reformgesetzgeber wollte so dem Umstand Rechnung tragen, dass die Rechtskraft bei schwierigen und lang dauernden Strafverfahren über mehrere Instanzen erst weit nach der Tatbegehung eintreten kann.[38] Zugleich wollte er der Gefahr entgegenwirken, dass der Pflichtteilsberechtigte versuchen könnte, seiner rechtskräftigen Verurteilung vor dem Erbfall durch das Einlegen aussichtsloser Rechtsmittel lange genug zu entgehen, um seinen Pflichtteil geltend machen zu können. Die allein bei § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB geforderte Rechtskraft der Verurteilung soll nach den Vorstellungen des Reformgesetzgebers als einfach nachzuprüfendes Kriterium die Entziehung des Pflichtteils erleichtern und nicht erschweren.[39] § 2336 Abs. 2 BGB stellt eine reine Formvorschrift dar, die ausschließlich die spätere Beweisbarkeit der tatsächlichen Motivation des Erblassers für seine Entscheidung dokumentieren helfen soll.[40] Entscheidend für die Pflichtteilsentziehung bleibt daher allein die begangene Straftat und nicht etwa die (spätere) Rechtskraft der Verurteilung. Dies klarzustellen ist der Zweck des neuen Satz 2 in § 2336 Abs. 2 BGB.[41]

Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass eine Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten bis zum Erbfall noch nicht erfolgt ist, aber noch erfolgen kann. In einer solchen Konstellation stellt sich die Frage, ob der Leistungsklage des zurückgesetzten nahen Familienangehörigen auf Auszahlung seines Pflichtteils (zunächst) stattzugeben ist, da die Voraussetzungen für eine Pflichtteilsentziehung gem. § 2333 Abs. 1 Nr. 4 BGB (noch) nicht vorliegen. Dieses Rechtsproblem rückt zunehmend in den Mittelpunkt der Diskussionen in der pflichtteilsrechtlichen Literatur.

[38] BT-Drs. 16/8954, S. 24 zu Nummer 28.
[39] Schaal/Grigas, BWNotZ 2008, 2, 19.
[40] MüKoBGB/Lange (Fn 8), § 2336 Rn 6; ders., in: Schlitt/Müller (Fn 8), § 7 Rn 70.
[41] Krit. mit Blick auf die strafrechtliche Unschuldsvermutung Schaal/Grigas, BWNotZ 2008, 2, 19.

2.2 2.

Diskutierte Lösungen

a) Rückwirkende Pflichtteilsentziehung

Wegen der strafrechtlichen Unschuldsvermutung will eine Auffassung im Schrifttum der Leistungsklage des Pflichtteilsberechtigten stets stattgeben. Man könne den Pflichtteil erst dann und zwar rückwirkend entziehen, wenn es tatsächlich zur rechtskräftigen Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten gekommen ist. In diesem Fall sei der Verurteilte auf Rückzahlung des Pflichtteils nach Bereicherungsrecht in Anspruch zu nehmen.[42] Der Pflichtteilsberechtigte erhielte zunächst seinen Pflichtteil und müsste ihn später wieder zurückgeben.

[42] J. Mayer, in: Mayer/Süß/Tanck/Bittler/Wälzholz (Fn 3), § 8 Rn 42; Muscheler, in: Bayer/Koch (Fn 5), S. 39, 61; in diese Richtung auch Burandt/Rojahn/G. Müller, Erbrecht, 2011, § 2333 Rn 50 und Schaal/Grigas, BWNotZ 2008, 2, 20.

b) Lösung mithilfe des Prozessrechts

Eine andere Auffassung in der Literatur versucht die Problematik auf prozessualem Wege zu lösen.[43] Bei Anhängigkeit eines Strafverfahrens gegen den Pflichtteilsberechtigten solle das Verfahren um den Pflichtteil gemäß § 149 ZPO ausgesetzt werden bis es zu einer strafgerichtlichen Entscheidung gekommen sei. Fehle es dagegen an einem Strafverfahren, müsse der Pflichtteil zugesprochen werden. Eine spätere rechtskräftige Verurteilung des Pflichtteilsberechtigten könne aber in der Berufungsinstanz vorgetragen werden, falls das Zivilurteil noch nicht teilweise in Rechtskraft erwachsen sei. Ansonsten bliebe dem Erben die Möglichkeit, gegen das Urteil mit der Vollstreckungsgegenklage nach § 767 ZPO vorzugehen. Eine Präklusion nach den §§ 529 ff ZPO oder nach § 767 Abs. 2 ZPO sei dabei nicht zu befürchten, da die Verurteilung gerade eine neue und damit berücksichtigungsfähige Tatsache darstelle. Sei es bereits zur Auszahlung des Pflichtteils gekommen, stehe dem Erben nach rechtskräftiger strafrechtlicher Verurteilung des zurückgesetzten nahen Familienangehörigen ein Rückforderungsanspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 BGB zu.

[43] HK-Pflichtteilsrecht/Herzog. (Fn 8), § 2333 Rn 70 ff; dies./Lindner, ZFE 2010, 379, 382 f.

c) Hypothetisches Strafurteil durch den Zivilrichter

Vor dem Hintergrund, dass man im Einzelfall das rechtskräftige Ergebnis eines Strafprozesses sowie die Pflichtteilsberechtigung nicht über einige Zeit im Unklaren lassen will und kann, wird ferner zur Diskussion gestellt, dass der Richter im Zivilprozess ein hypothetisches Strafurteil für den Pflichtteilsberechtigten zu bilden habe.[44] Aufgrund dieser Einschätzung müsse dem Leistungsverlangen des Pflichtteilsberechtigten entweder stattgegeben oder aber es abgelehnt werden.

[44] MüKoBGB/Lange (Fn 8), § 2336 Rn 5.

3. Kritik und eigene Auffassung

a) Gerechte Risikoverteilung zwischen dem Erben und dem Pflichtteilsberechtigten

Die aufgeworfene Frage erweist sich bei genauer Betrachtung als Problem einer gerec...

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