Zu prüfen bleibt also nur noch, wie Art. 687 c.c. im Rahmen der EuErbVO zu qualifizieren ist. Wie bereits oben dargelegt[26], geht die höchstrichterliche Rechtsprechung in Italien davon aus, dass Art. 687 c.c. nicht dazu dient, den Erblasserwillen zu schützen, sondern die Kinder des Erblassers. Dementsprechend ist hier eine Qualifikation dieser Vorschrift als eine Bestimmung in Erwägung zu ziehen, die Art. 23 Abs. 2 lit. h) EuErbVO unterfällt.

Zwar ist die Lesart der italienischen Gerichte im Rahmen des Sachrechts für die Qualifikation auf europäischer Ebene nicht entscheidend[27]. Für sie sprechen aber gute Gründe[28], so dass es zumindest nahe liegend ist, Art. 687 c.c. auch im Rahmen der EuErbVO als eine Vorschrift anzusehen, die dem Schutz der Kinder des Erblassers dient und somit die pflichtteilsrechtlichen Bestimmungen ergänzt. Darüber hinaus zeigt die Lösung der Abwandlung des oben geschilderten Beispiels, das sie auch zu sachgemäßen Ergebnissen führt:

Erblasser E lebt zusammen mit seiner Frau F in Italien. Während seines dortigen Aufenthaltes entscheidet er sich, ein Testament zu errichten, in dem er sein gesamtes Vermögen auf seinen besten Freund G überträgt. Zwei Jahre später kommt sein erster Sohn mit F zur Welt. Ein Jahr danach wird er erneut Vater. Fünf Jahre später muss E aus beruflichen Gründen nach Deutschland mit seiner Familie ziehen. F verstirbt ein Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland und E drei Jahre danach.

Indem das Testament in Italien errichtet wurde, richten sich dessen Zulässigkeit und materielle Wirksamkeit nach italienischem Sachrecht, Art. 24 Abs. 1, 21 Abs. 1 EuErbVO[29]. Die Erbfolge des E richtet sich aber im Übrigen nach deutschem Sachrecht, Art. 21 Abs. 1 EuErbVO[30]. Geht man hier davon aus, dass Art. 687 c.c. eine Vorschrift ist, die dem allgemeinen Erbstatut unterfällt, so ist sie hier nicht anwendbar, da insoweit deutsches Sachrecht zur Anwendung kommt. Das Testament bleibt hier also trotz des Hinzukommens der beiden Kinder wirksam. Ein Anfechtungsrecht der nach § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB pflichtteilsberechtigten Kinder nach § 2079 BGB[31] scheidet hier ebenfalls aus, da nach Art. 24 Abs. 1 EuErbVO italienisches Sachrecht anzuwenden ist. Die Kinder können aber ihre Pflichtteilsrechte nach § 2303 Abs. 1 BGB[32] geltend machen, so dass sie hier jeweils einen Anspruch auf ¼ des Nachlasses besitzen.

Ähnlich wie bei den after-born child statutes stellt sich allerdings die Frage, ob Art. 687 c.c. als eine Bestimmung angesehen werden kann, die von Art. 23 Abs. 2 lit. h) EuErbVO erfasst wird. Denn auch Art. 687 c.c. ist schon dann unanwendbar, wenn der Erblasser den Fall des Hinzukommens von Kindern bei der Testamentserrichtung berücksichtigt hat, Art. 687 Abs. 3 c.c. Darüber hinaus gewährt Art. 687 c.c. selbst (anders als die after-born child statutes) den Kindern keinen Anspruch gegen den Nachlass beziehungsweise den Erben. Stattdessen bewirkt er nur, dass das Testament des Erblassers beseitigt wird. Den Kindern erwachsen also nur insoweit Rechte am Nachlass, als sie durch die Beseitigung des Testaments gesetzliche Erben werden. Art. 687 c.c. kann also (anders als die after-born child statutes) nicht als einen Anspruch im Sinne des Art. 23 Abs. 2 lit. h) a.E. EuErbVO angesehen werden. Es bleiben indes trotzdem unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten übrig, um zu erreichen, dass auch Art. 687 c.c. dem allgemeinen Erbstatut unterliegt. Man kann entweder den Begriff des "Pflichtteils" in Art. 23 Abs. 2 lit. h) EuErbVO so verstehen, dass er auch Vorschriften erfasst, deren Anwendung einseitig vom Erblasser beseitigt werden kann, soweit derartige Vorschriften (wie Art. 687 c.c.) eng mit den pflichtteilsrechtlichen Bestimmungen zusammenhängen. Man kann allerdings auch Art. 687 c.c. als eine Vorschrift ansehen, die die Testierfreiheit des Erblassers "anderweitig beschränkt" im Sinne des Art. 23 Abs. 2 lit. h) EuErbVO. Schließlich ist es noch möglich, Art. 687 c.c. gar nicht Art. 23 Abs. 2 lit. h) EuErbVO zu unterwerfen, sondern stattdessen Art. 23 Abs. 1 EuErbVO, da Art. 23 Abs. 2 EuErbVO nicht abschließend ist ("insbesondere").

[26] Siehe de Barros Fritz, ZErb 2020, 358, 360 f.
[27] S.o. II. 1.
[28] Siehe de Barros Fritz, ZErb 2020, 358, 360 f.
[29] Und arg. e Art. 34 EuErbVO (Italien ist nämlich kein "Drittstaat").
[30] Auch Deutschland ist kein "Drittstaat" im Sinne des Art. 34 EuErbVO.
[32] Die Pflichtteilsrechte unterliegen nach Art. 23 Abs. 2 lit. h) EuErbVO dem allgemeinen Erbstatut.

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