Stille Reserve nennt man den Mehrwert zwischen dem Zeitwert (Markt- oder Verkehrswert) eines Vermögensgegenstands und dessen Erwerbskosten. Der Begriff stammt aus dem Rechnungswesen, wird aber unabhängig davon verwendet.

Der Erbfall führt zu keiner Realisierung stiller Reserven, weder beim Erblasser noch beim Erben. Vielmehr führt der Erbe die einkommensteuerliche Rechtstellung des Erblassers fort.[18] Die stillen Reserven in den Nachlassgegenständen gehen unbesteuert auf ihn über. Er übernimmt auch die Erwerbskosten des Erblassers (§ 6 Abs. 3 EStG, § 11d EStDV).

Der Nachlass selbst ist kein Steuersubjekt.[19] Er ist zwar ein Sondervermögen, aber kein Zweckvermögen im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 5 KStG, weil er rechtlich und wirtschaftlich ein unselbständiger Bestandteil des Vermögens des Erben ist.

Im Steuerrecht gilt keine Regel, die § 101 BGB entspricht. Die bis zum Erbfall entstandenen stillen Reserven muss also nicht der Erblasser nachträglich versteuern, wenn sie realisiert werden. Daher besteht keine latente Erblasserschuld im Sinne von § 1967 Abs. 2, 1. Fall BGB. Darin ist dem BGH[20] zuzustimmen.

Die Einkommensteuer knüpft nicht an die Existenz stiller Reserven an. Wann sie begründet[21] wurden, ist also nicht relevant, allein relevant ist, wann sie realisiert werden.[22]

Realisiert werden stille Reserven, wenn der Vermögensgegenstand veräußert wird. Manchmal genügt ein anderer Vorgang, der einer Veräußerung gleichstellt ist, so die Entnahme eines Gegenstandes aus einem Betriebsvermögen zur Erfüllung eines Sachvermächtnisses[23] oder der Wegzug eines Menschen ins Ausland, der zu mindestens zu 1 % am Nennkapital einer Kapitalgesellschaft beteiligt ist (§ 6 AStG).

Die fingierte Veräußerung dient ausschließlich der Schätzung des für den Nachlassgegenstand erzielbaren Preises. So ist die Aussage zu verstehen, der Pflichtteilsberechtigte sei so zu stellen, als sei der Nachlass beim Tod des Erblassers in Geld umgesetzt worden.[24] Die Fiktion dient somit nicht der Schätzung des erzielbaren Veräußerungsgewinns. Das kann sie auch nicht leisten, denn sie hat weder die Erwerbskosten noch die Veräußerungskosten zum Gegenstand und bringt dazu keinerlei Erkenntnisse. Der Preis wiederum ist nur ein Rechenposten in der Formel, nach der der Veräußerungsgewinn berechnet wird. Deshalb kann er nur in dem theoretischen Fall, in dem die Erwerbskosten und die Veräußerungskosten null betragen, mit dem Veräußerungsgewinn übereinstimmen.

Wie schon erwähnt, hat die bei einer echten Veräußerung entstehende Einkommensteuer keinen Einfluss auf den erzielten Veräußerungspreis. Deshalb kann eine fiktive Einkommensteuer bei einer fiktiven Veräußerung auch keinen Einfluss auf den geschätzten Veräußerungspreis haben. Denn der Gedankengang und die Berechnung müssen bei einer echten und einer fiktiven Veräußerung identisch sein. Alles andere wäre widersinnig.

[18] So beim Tod eines Einzelunternehmers und bei einer Personengesellschaft bei Übergang des Gesellschaftsanteils: Schmidt/Wacker, EStG, 34. Aufl., § 16 EStG Rn 590 und Rn 665 mwN.
[20] V. 26.4.1972 IV ZR 114/70, NJW 1972, 1269.
[21] Auch in § 38 InsO kommt es auf die Verwirklichung des Steuertatbestands an, die sich nach ständiger Rechtsprechung des BFH ausschließlich nach steuerlichen Grundsätzen richtet: BFH v. 9.12.2014 X R 12/12, BFH/NV 2015, 988 mwN.
[22] Es wird im Zeitpunkt der Realisation ein über den vorangegangenen Zeitraum akkumulierter Zuwachs an Leistungsfähigkeit nachholend der Besteuerung unterworfen: BVerfG v. 7.7.2010 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05, 2 BvR 1738/05, BStBl II 2011, 86; BFH v. 11.12.2012 IX R 7/12, BStBl II 2013, 372, Rn 15.
[24] V. 13.3.1991 IV ZR 52/90, NJW-RR 1991, 900; v. 14.10.1992 IV ZR 211/91, NJW-RR 1993, 131: v. 25.11.2010 IV ZR 124/09, ZEV 2011, 29 Rn 5; v. 14.10; v. 8.4.2015 IV ZR 150/14, ZEV 2015, 315; OLG Düsseldorf v. 27.5.1994 7 U 136/93, ZEV 1994, 361.

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