Eine Bindung des Zweitgerichts an die Subsumtion des Erstgerichts unter Art. 4 EU-ErbVO folgt zum einen aus der Anerkennungsvorschrift des Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO. Die Argumente des EuGH in der Rechtssache "Gothaer Allgemeine Versicherung AG"[50] zu Art. 33 Abs. 1 EU-GVO lassen sich auf die Parallelvorschrift Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO übertragen:

Die Vorschriften über die Zuständigkeit (Artt. 4 ff EU-ErbVO) und die Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen (Artt. 39 ff EU-ErbVO) in der EU-ErbVO stellen keine separaten und autonomen Regelungen dar, sondern hängen eng miteinander zusammen: Der vereinfachte Mechanismus der Anerkennung und Vollstreckung nach Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO, nach dem die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden, ohne dass es dafür eines besonderen Verfahrens bedarf, ist durch das gegenseitige Vertrauen gerechtfertigt, das die Mitgliedstaaten einander – insbesondere das Gericht des ersuchten Staats dem Gericht des Ursprungsstaats – entgegenbringen.[51] Ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen ist dabei umso mehr geboten, wenn die Gerichte der Mitgliedstaaten – wie dies bei Artt. 4 ff EU-ErbVO der Fall ist – gemeinsame Zuständigkeitsvorschriften anzuwenden haben.[52]

Es ist wesentlicher Bestandteil dieses Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens, dass die Zuständigkeitsregeln der Artt. 4 ff EU-ErbVO, die allen Gerichten der teilnehmenden Mitgliedstaaten gemeinsam sind, von jedem dieser Gerichte mit gleicher Sachkenntnis ausgelegt und angewandt werden können.[53] Ein später angerufenes Gericht ist daher in keinem Fall besser als das zuerst angerufene Gericht in der Lage, über die Zuständigkeit dieses zuerst angerufenen Gerichts zu befinden.[54] Aus Art. 41 EU-ErbVO ergibt sich zudem, dass die Entscheidung des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats nach diesem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden darf (Verbot der "révision au fond"). Das Vertrauen in die sachliche Richtigkeit der Entscheidung muss sich auch darauf erstrecken, dass das zuerst angerufene Gericht die harmonisierten Zuständigkeitsregeln richtig angewendet hat.[55]

Dem Grundsatz des Vertrauens in die Richtigkeit mitgliedstaatlicher Entscheidungen würde es widersprechen, wenn man in Beispiel 1 die – von einer Hybris dem italienischen Gericht gegenüber zeugenden – Mutmaßungen des deutschen Gerichts, das italienische Gericht habe den gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers iSv Art. 4 EU-ErbVO (nur) deshalb in Deutschland verortet, um den italienischen Prozess auf diese Weise schnell und ohne großen Arbeitsaufwand zu beenden, für rechtlich relevant halten würde. Das deutsche Gericht ist gemäß Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO an die Subsumtion des italienischen Gerichts unter Art. 4 EU-ErbVO gebunden und muss sich daher selbst nach Art. 4 EU-ErbVO als zuständig ansehen.

[50] S. o. C.II.2.
[51] So zu den Parallelvorschriften Artt. 2 ff, 27 ff EU-GVO: EuGH, Gutachten 1/03 v. 7.2.2006, Slg. 2006, I-1145, Rn 163; EuGH, Urt. v. 21.6.2012 – Rs. C-514/10 (Wolf Naturprodukte GmbH), www.curia.europa.eu, Rn 25; EuGH (Fn 2), IPRax 2014, 163, Rn 35.
[52] So zur EU-GVO: EuGH (Fn 2), IPRax 2014, 163, Rn 28, 35, unter Bezugnahme auf Generalanwalt Yves Bot, Schlussanträge v. 6.9.2012 – Rs. C-456/11, Rn 73.
[53] So zum EU-GVÜ: EuGH, Urt. v. 27.4.2004 – Rs. C-159/02 (Turner), Slg. 2004, I-3565, Rn 25; zur EU-GVO: Rauscher/Leible (Fn 35), Art. 27 Brüssel I-VO, Rn 16.
[54] So zum EU-GVÜ: EuGH, Urt. v. 27.6.1991 – Rs. C-351/89 (Overseas Union Insurance Ltd. u. a.), Slg. 1991, I-3317, Rn 23; EuGH (Fn 23), Slg. 2003, I-14693, Rn 48; zur EU-GVO: EuGH, Urt. v. 10.2.2009 – Rs. C-185/07 (Allianz SpA/West Tankers), Slg. 2009, I-663, Rn 29.
[55] So zur Parallelvorschrift Art. 36 EU-GVO: EuGH (Fn 2), IPRax 2014, 163, Rn 37.

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