Betrachtet man die nunmehr durch den Regierungsentwurf vorgezeichneten neuen erbrechtlichen Strukturen, insbesondere den Willen des Gesetzgebers, die Testierfreiheit des Erblassers zu stärken, so gerät die weiterhin bestehende Möglichkeit des Verlustes der Testierfreiheit durch (einfaches) privatschriftliches gemeinsames Testament in das Blickfeld. Wesenskern des gemeinsamen Testamentes ist, dass es grundsätzlich zwei getrennte letztwillige Verfügungen enthält, die aber dann, wenn sie Erbeinsetzungen, Vermächtnisse und Auflagen enthalten und diese Anordnungen zwischen den Eheleuten[16] "wechselbezüglich" angeordnet sind, den länger lebenden Ehegatten bzw. Lebenspartner nach dem Tode des Erstversterbenden binden, also dessen Testierfreiheit nach dem Tode des erstversterbenden Ehe- oder Lebenspartners beseitigen. Die Vermutungsregel des § 2270 Absatz 2 BGB ordnet an, dass die Wechselbezüglichkeit "im Zweifel" anzunehmen ist, wenn sich die Ehegatten[17] gegenseitig bedenken oder wenn dem einen Ehegatten von dem anderen eine Zuwendung gemacht und für den Fall des Überlebens des Bedachten eine Verfügung zugunsten einer Person getroffen wird, die mit dem anderen Ehegatten verwandt ist oder ihm sonst nahe steht.

Dass das Rechtsinstitut des gemeinschaftlichen Testamentes von den geplanten neuen Regelungen zur Erweiterung der Testierfreiheit bei Anrechnung und Ausgleichung stark betroffen ist, soll folgendes einfache Fallbeispiel zeigen:

 
Praxis-Beispiel

Die im gesetzlichen Güterstand lebenden Eheleute E setzen sich gegenseitig zum alleinigen Erben des Erstversterbenden ein. Schlusserben sollen die drei Kinder A – C sein. Das Testament enthält keine Öffnungsklausel. Herr E wendet seinem Kind A vorab 100.000 EUR, seinem Kind B 25.000 EUR ohne lebzeitige Anrechnungsbestimmung zu; Frau E dem Kind A 50.000,– EUR und dem Kind C 10.000 EUR. Herr E verstirbt nach fünfzigjähriger Ehe mit Frau E. Frau E wird hilfsbedürftig. Seit dem Tode des Mannes hat sie, wider jede Erwartung, von A nichts mehr gesehen oder gehört. B und C kümmern sich aufopfernd um sie, sodass sie weiterhin zu Hause wohnen bleiben kann. Frau E fragt an, wie sie die erbrechtliche Position von A schwächen kann. Das hinterlassene Vermögen des Herrn E beträgt 400.000 EUR, das, nach der Geltendmachung des Pflichtteils durch A noch zu ca. 370.000 EUR vorhanden ist. Kein weiteres Kind hat seinen Pflichtteil geltend gemacht. Frau E verfügt über eigenes Vermögen von 150.000 EUR.

In diesem Fall greift – sofern nichts anderes nachweisbar ist – letztlich die Vermutungsregel des § 2270 Absatz 2 BGB[18] ein. Das Fallbeispiel stellt den klassischen Fall des sog. Berliner Testaments mit Schlusserbfolgenanordnung zugunsten der gemeinsamen Kinder dar. Sein Erbrecht nach dem Tode von Frau E kann dem abtrünnigen A also bei Eingreifen des § 2270 Absatz 2 BGB nicht mehr genommen werden. Es fragt sich, ob Frau E dann jedoch zumindest noch eine nachträgliche Anrechnungsbestimmung bzgl. der Vorauserwerbe des Sohnes A zu dessen Lasten treffen kann. Die fortan bestehende lebzeitige Möglichkeit des Ehemannes, nachträglich eine Anrechnungsbestimmung treffen zu können, ist mit seinem Tode untergegangen. Die Vererblichkeit des Rechts zur letztwilligen Anrechnungsbestimmung betreffend der lebzeitigen Vorausverfügungen des Erblassers, hätte letztwillig von ihm verfügt werden müssen.

[16] Bzw. die gleichgeschlechtlichen Lebenspartner nach § 10 IV LPartG.
[17] Wie zuvor.
[18] Es gibt in einem solchen Falle zwar keinen Erfahrungssatz dahingehend, dass jeder der beiden Ehegatten die gemeinsamen Kinder nur deshalb bedenkt, weil auch der andere dies tut (BayObLG RPfleger 1985, 445; BayObLG FamRZ 1996, 1040; OLG Köln FamRZ 1993, 1371). Damit wird aber der Anwendungsbereich der Vermutungsregel des § 2270 Absatz 2 BGB erst eröffnet (vgl. Praxiskommentar Erbrecht, Damrau/Klessinger, § 2270 Rz. 17, Staudinger/Kanzleiter, (2006) § 2270 Rz. 28). Wechselbezüglich ist hiernach die Erbeinsetzung der Ehegatten untereinander (§ 2271 Abs. 2. Alt. 1 BGB) sowie die jeweilige Erbeinsetzung des anderen Ehegatten zur Erbeinsetzung der gemeinsamen Kinder (§ 2271 Abgs.2 Alt. 2 BGB).

6.1. Das zukünftige Zusammenwirken der §§ 2278 Absatz 2 – RegE und 2270 Absatz 3 BGB

Es stellt sich aber die Frage, wie sich das geplante neue Recht zur abweichenden Anrechnungsbestimmung durch letztwillige Verfügung, zur grundsätzlich bestehenden Bindungswirkung des gemeinsamen Testamentes verhält. Im Fallbeispiel geht es konkret um die Zuwendung der Frau E gegenüber ihrem Kind A in Höhe von 50.000 EUR. Eine Erweiterung des Wortlautes des § 2270 Absatz 3 BGB entsprechend der geplanten Wortlauterweiterung des § 2278 Absatz 2 BGB ist im RegE nicht vorgesehen. Mag der § 2270 Absatz 3 BGB bisher auch schlicht außerhalb des Blickfeldes der Entwurfsverfasser gewesen sein, so ist dies doch in seiner Auswirkung begrüßenswert. Da auch zukünftig im Sinne des § 2270 Absatz 3 BGB lediglich Erbeinsetzungen, Vermächtnisse und Auflagen wechselbezüglich angeordnet werden können, kann der Längerlebende also zukünftig eigene Anrechnungsbestimmu...

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