Eine für die Anwaltschaft ebenfalls oft relevante Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ergibt sich im Zusammenhang mit Terminverlegungsanträgen. Am Tag der o.a. Entscheidung des BSG hatte das BVerfG (Nichtannahmebeschl. v. 10.6.2021 – 1 BvR 1997/18, NJW 2021, 3384, hierzu Keller, jurisPR-SozR 23/2021 Anm. 3) über eine Gehörsverletzung bei der Behandlung eines Antrags auf Terminsverlegung zu befinden, und zwar hinsichtlich desselben Senats des LSG Stuttgart, dessen Urteil das BSG (s. o. unter 1.) aufgehoben hat.

Für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist nicht jede fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung einer einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift (hier: § 62 SGG) ausreichend. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist grds. erst überschritten, wenn die fehlerhafte Auslegung/Anwendung einfachen Rechts willkürlich ist, also in einer bei verständiger Würdigung der das GG beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlichen und offensichtlich unhaltbaren Weise erfolgt, oder wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite des betreffenden Grundrechts verkennt (s. etwa BVerfG, Stattgebender Kammerbeschl. v. 1.7.2021 – 2 BvR 890/20, NJW 2021, 2955, Rn 15 m.w.N.). Im Hinblick auf das durch Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistete Recht, sich in einer stattfindenden oder gesetzlich vorgesehenen mündlichen Verhandlung zu äußern, liegt eine Verletzung dieses Grundrechts aber jedenfalls dann vor, wenn trotz beantragter Terminsverlegung und Bestehen eines Verlegungsgrundes gleichwohl eine mündliche Verhandlung am ursprünglich bestimmten Termin stattfindet, oder sofern sich – ohne dass das Vorliegen eines Verlegungsgrundes abschließend beurteilt werden könnte – aus der Art und Weise der Behandlung eines abgelehnten Terminverlegungsantrages bzw. der Begründung hierfür ergibt, dass die Bedeutung und Tragweite des Rechts auf rechtliches Gehör verkannt wurde (BVerfG, a.a.O., Rn 10 m.w.N.). Zwar müssen bei einem Antrag auf Terminsverlegung die Gründe hierfür so detailliert vorgetragen werden, dass dem Gericht eine Prüfung ihrer Erheblichkeit möglich ist. Genügt der Antrag diesen Voraussetzungen nicht, so ist allerdings das Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs und zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens grds. verpflichtet, den Antragsteller auf Lücken im Antrag hinzuweisen und ihm die Möglichkeit einzuräumen, fehlende Angaben nachzuholen. Allenfalls bei einem erst unmittelbar vor dem Termin gestellten Verlegungsantrag kann das Gericht hiervon absehen (BVerfG, a.a.O. Rn 13, ebenso BSG, Beschl. v. 1.7.2010 – B 13 R 561/09 B Rn 12 und Schmidt in: M-L/K/L/S, § 110 Rn 4b m.w.N., dort auch aufgrund der Benennung im Sachverzeichnis unter "Termin, Aufhebung" mühelos auffindbar). Bei Anlegung dieser Maßstäbe verletzte, so das BVerfG, die Ablehnung des nicht ausreichend substantiiert beantragten Verlegungsantrags durch das LSG – das die von seiner Auffassung abweichende Rechtsprechung des BSG und Kommentarliteratur nicht einmal erwähnte – und die Durchführung der mündlichen Verhandlung ohne den Kläger und seinen Bevollmächtigten das Recht des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG.

Die Verfassungsbeschwerde wurde gleichwohl mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen, da der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert dargelegt hatte, dass die angegriffene Entscheidung des LSG auch auf der Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör beruhte (§§ 23a Abs. 1 S. 2, 92 BVerfGG). Nach der Rechtsprechung des BSG hingegen sind grds. im Hinblick auf die besondere Bedeutung der mündlichen Verhandlung Darlegungen zur möglichen Ursächlichkeit eines Verstoßes gegen das rechtliche Gehör für den Ausgang des Rechtstreits nicht erforderlich, wenn Beteiligte bzw. deren Bevollmächtigte wegen des Gehörsverstoßes gehindert waren, an der Verhandlung teilzunehmen (s. Leitherer in: M-L/K/S/ SGG § 160a, Rn 16d m.w.N.).

Von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht Dr. Ulrich Sartorius, Breisach und Prof. Dr. Jürgen Winkler, Katholische Hochschule Freiburg

ZAP F. 18, S. 439–458

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