Nach Art. 20 Abs. 3 GG ist die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden. Die Gerichte sind kraft der Bindungswirkung einschlägig gültiger Normen zu deren Anwendung verpflichtet; sie dürfen sich über ihre Gesetzesbindung nicht hinwegsetzen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 GG) schließt es aus, dass die Gerichte Befugnisse beanspruchen, die die Verfassung dem Gesetzgeber übertragen hat, indem sie sich aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und damit der Bindung an Recht und Gesetz entziehen (BVerfG NJW 2012, 669 = juris Rn 44; BVerfG v. 23.5.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, juris Rn 36, jeweils m.w.N.).

Diese Verfassungsgrundsätze verbieten es dem Richter zwar nicht, das Recht fortzuentwickeln. Anlass zu richterlicher Rechtsfortbildung besteht insbesondere dort, wo Programme ausgefüllt, Lücken geschlossen, Wertungswidersprüche aufgelöst werden oder besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung getragen wird (BVerfGE 126, 286, 306 und NJW 2012, 669 = juris Rn 46). Der Befugnis zur "schöpferischen Rechtsfindung und Rechtsfortbildung" sind allerdings mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung Grenzen gesetzt (BVerfG, Beschl. v. 23.5.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, juris Rn 37 m.w.N.). Der Richter darf sich nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen. Er muss die gesetzgeberische Grundentscheidung respektieren und den Willen des Gesetzgebers unter gewandelten Bedingungen möglichst zuverlässig zur Geltung bringen. Anderenfalls greife er unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BVerfGE 128, 193 = juris Rn 53; ZMGR 2015, 121 = juris Rn 18; BVerfG v. 23.5.2016 – 1 BvR 2230/15, 1 BvR 2231/15, juris Rn 39).

Nach dem Beschluss des BVerwG vom 10.8.2016 (1 B 83.16) überschreitet die Rechtsfortbildung die zulässigen Grenzen, wenn sie deutlich erkennbare, möglicherweise sogar ausdrücklich im Wortlaut dokumentierte gesetzliche Entscheidungen abändere oder ohne ausreichende Rückbindung an gesetzliche Aussagen neue Regelungen schaffe. Habe der Gesetzgeber eine eindeutige Entscheidung getroffen, dürften die Gerichte diese nicht aufgrund eigener rechtspolitischer Vorstellungen verändern oder durch judikative Lösungen ersetzen.

 

Hinweis:

Die unzutreffende tatsächliche Einschätzung der Legislative berechtigt die Judikative auch dann nicht, sich über den eindeutig erkennbaren Willen des Gesetzgebers hinwegzusetzen, wenn sie auf einem offenkundigen Irrtum des Gesetzgebers beruht. Der Gesetzgeber hat selbst tätig zu werden, falls er seine irrtümliche Vorstellung, dass die Norm keinen Anwendungsbereich mehr hat, korrigieren will.

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