Angriffe gegen Sachverständigengutachten werden häufig "kurzer Hand" zurückgewiesen (vgl. Doukoff, a.a.O., Rn 522). Die Bereitschaft eines gerichtlich bestellten Sachverständigen seine Auffassung zu revidieren, ist kaum vorhanden. Nach dessen Gutachten richtet sich "fast ausnahmslos" der Prozess (vgl. Prechtel, Entkräftung eines Sachverständigengutachtens, ZAP F. 13, S. 1489 ff.). Die einzig verbleibende reelle Möglichkeit, ein Sachverständigengutachten zu widerlegen bzw. Zweifel an dessen Ergebnis zu säen, ist die Vorlage eines Privatgutachtens. Dieses müsste als "qualifizierter, urkundlich Parteivortrag" ebenso wie das gerichtliche Sachverständigengutachten beachtet und gewürdigt werden (st. Rspr. vgl. BGH, Urt. v. 10.10.2000 – VI ZR 10/00, NJW 2001, 77 f. m.w.N.). Andernfalls liegt ein Gehörsverstoß nahe (vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.10.1996 – 1 BvR 520/95, NJW 1997, 122 f.). Bei einem Widerspruch zwischen Gerichts- und Privatgutachten hat das Gericht von Amts wegen auf die weitere Aufklärung hinzuwirken (st. Rspr., vgl. z.B. BGH, Urt. v. 28.4.1998 – VI ZR 403/96, NJW 1998, 2735 f.).

Wird das Privatgutachten erst in zweiter Instanz vorgelegt, ist das nicht zu beanstanden. Es besteht weder aus der Substantiierungslast, noch aus der allgemeinen Prozessförderungspflicht eine Verpflichtung, ein Privatgutachten zur Widerlegung des Gerichtsgutachtens in erster Instanz einzuholen (vgl. BGH, Urt. v. 19.2.2003 – IV ZR 321/02, NJW 2003, 1400 f.). "Jede Partei ist zwar grundsätzlich gehalten, schon im ersten Rechtszug die Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen, (...). Sie ist aber nicht verpflichtet, bereits in erster Instanz ihre Einwendungen gegen das Gerichtsgutachten auf die Beifügung eines Privatgutachtens oder auf sachverständigen Rat zu stützen, um Einwendungen gegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten zu formulieren. Sie ist vielmehr berechtigt, ihre Einwendungen zunächst ohne solche Hilfe vorzubringen (vgl. Senat, BGHZ 159, 245 f., NJW 2004, 2825; BGH VersR 2004, 83 f.). Dieser Grundsatz gilt zwar insbesondere bei medizinischen Fragen, muss jedoch auch bei anderen Fallgestaltungen Anwendung finden, in denen ein Erfolg versprechender Parteivortrag fachspezifische Fragen betrifft und besondere Sachkunde erfordert. (...) Auch in solchen Fällen dürfen bei einer Partei, die nur geringe Sachkunde hat, weder an ihren klagebegründenden Sachvortrag noch an ihre Einwendungen gegen ein Sachverständigengutachten hohe Anforderungen gestellt werden. Insbesondere braucht sie auch dann über ihre hinreichend substantiierte Kritik an dem gerichtlichen Gutachten hinaus keinen Privatgutachter einzuschalten, um vorbeugend der Gefahr entgegenzuwirken, dass das Gericht dem Gerichtssachverständigen trotz ihrer Einwendungen folgen werde" (BGH, Urt. v. 18.10.2005 – VI ZR 270/04, NJW 2006, 152, 154). In Fortführung dieser Rechtsprechung gilt weiter: "Eine Partei ist auch dann nicht gehindert, sich zur Ergänzung ihres Sachvortrags eines anerkannten Sachverständigen zu bedienen, wenn sie selbst über Fachkenntnisse verfügt" (BGH, Beschl. v. 21.12.2006 – VII ZR 279/05, NJW 2007, 1531 f.).

 

Hinweis:

Es ist immer eine Frage des Einzelfalls, aber die Praxis zeigt, dass auch der erstinstanzliche Meinungsstreits von Gerichtsgutachter und Privatgutachter i.d.R. zugunsten des Gerichtsgutachters ausgeht, d.h. das Gericht diesem folgt und nicht etwa von einem "non liquet" oder ein sog. Obergutachten anordnet. Das geschieht regelmäßig durch Leer- oder Beschwörformeln: "der langjährige, gerichtserfahrene (!) Sachverständige hat in seinem überzeugenden (!) Gutachten zur vollsten (!) Überzeugung des Gerichts (...)" (Doukoff, a.a.O., Fn 1511). Die Nähe des Gerichts zu dem Gerichtsgutachter ergibt sich oft bereits aus der Tatsache der Beauftragung als solcher und der damit einhergehenden Bekanntheit zwischen Gericht und Gutachter, ggf. mit tendenziellen Fragestellungen (vgl. Gresser/Jordan DS 2014, 71 ff.). Das bedeutet, dass ein erst in zweiter Instanz für die Berufungsbegründung eingeholtes Privatgutachten verfahrenspsychologisch sinnvoller sein kann, weil es einerseits die Beschlusszurückweisung (§ 522 Abs. 2 ZPO) oft verhindert, so dass Vergleichsspielraum geschaffen werden kann und zudem der Gerichtssachverständige der ersten Instanz nicht unbedingt der "Hausgutachter" des Berufungsgerichts sein muss.

Auch ohne Privatgutachten sind berufungsrechtliche Angriffe gegen das Ergebnis eines Sachverständigengutachtens möglich, denn auch die Unvollständigkeit des Gutachtens kann Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen wecken, denn ein unvollständiges Gutachten kann keine Entscheidungsgrundlage sein, so dass von Amts wegen auf eine Vervollständigung des Gutachtens hinzuwirken ist (vgl. BGH, Urt. v. 8.6.2004 – VI ZR 230/03, NJW 2004, 2828 ff.).

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge