Verfahrensgang

OLG Nürnberg (Urteil vom 23.01.1995; Aktenzeichen 7 UF 3341/92)

AG Ansbach (Urteil vom 06.10.1992; Aktenzeichen F 4/88)

 

Tenor

Das Urteil des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 23. Januar 1995 – 7 UF 3341/92 – und das Urteil des Amtsgerichts Ansbach vom 6. Oktober 1992 – F 4/88 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Das Urteil des Oberlandesgerichts wird aufgehoben.

Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Damit erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Umfang der Verurteilung zur Zahlung eines Zugewinnausgleichs.

1. Die Ehe des Beschwerdeführers, der als selbständiger Kaufmann in der Mineralölbranche tätig ist, wurde im Jahre 1986 geschieden. Der Scheidungsantrag war am 13. April 1985 zugestellt worden. 1988 erhob die geschiedene Ehefrau des Beschwerdeführers im Ausgangsverfahren Klage auf Zugewinnausgleich in Höhe von 975.120 DM zuzüglich Zinsen. Der Beschwerdeführer vertrat den Standpunkt, sein Endvermögen übersteige bei zutreffender Bewertung und unter Berücksichtigung der am Stichtag bestehenden Verbindlichkeiten sein Anfangsvermögen nicht.

a) Das Amtsgericht holte im Laufe des Verfahrens ein schriftliches Gutachten ein, mit dem unter anderem der Wert der Beteiligung beider Parteien an dem Mineralölhandelsunternehmen B. GmbH festgestellt werden sollte, das dem Beschwerdeführer zu 90% und seiner ehemaligen Ehefrau zu 10% gehört.

Der Sachverständige ermittelte zunächst die Erträge der Jahre 1981 bis 1984, die zum überwiegenden Teil deutlich unter 100.000 DM lagen und in einem Jahr auch zu einem Verlust geführt hatten. Die folgenden Jahreserträge beliefen sich für 1985 auf 242.924 DM und für 1986 auf 345.027 DM. Sodann berechnete der Sachverständige den zukünftigen Jahreserfolg auf der Basis der Vergangenheitsergebnisse. Er führte dazu aus, ein Blick auf die Zahlen von 1981 bis 1986 zeige, daß lediglich die Jahre 1985 bis 1986 als repräsentativ herangezogen werden könnten, was auch das unbereinigte Jahresergebnis für das Jahr 1987 bestätige. Der Sachverständige schätzte auf dieser Grundlage nach der sogenannten Gewichtungsmethode einen durchschnittlich zu erwartenden Ertrag von 310.000 DM pro Jahr. Hinzu trat noch ein kalkulatorischer Unternehmerlohn. Das Unternehmerrisiko berücksichtigte der Sachverständige in der Weise, daß er den am Stichtag maßgeblichen Zinssatz für festverzinsliche Wertpapiere in Höhe von 6,9% um 0,1 Prozentpunkte erhöhte, was er für angemessen hielt. Er habe diesen Kalkulationszinsfuß einer Plausibilitätsprüfung unterzogen, verzichte aber auf eine Beschreibung der Struktur und der Berechnungsprozedur dieser Prüfung.

Unter Zugrundelegung aller genannten Faktoren errechnete der Sachverständige als den wahren Ertragsbarwert der GmbH und damit auch als relevanten Wert zum Bewertungsstichtag einen Betrag von 5.104.000 DM, wovon auf den Anteil des Beschwerdeführers 4.594.000 DM, auf den seiner geschiedenen Ehefrau 510.000 DM entfielen.

Der Beschwerdeführer legte im Gegenzug ein von der Bayerischen Revisions- und Treuhandgesellschaft AG erstattetes Privatgutachten vor, das zu dem Ergebnis kam, der Gesamtwert der B. GmbH zum Stichtag betrage größenordnungsmäßig rund 750.000 DM. Die Ersteller dieses Gutachtens sahen als für die Wertberechnung maßgeblich den Durchschnitt der Wirtschaftsjahre 1985 bis 1989 an, was auch der Entwicklung der weiteren Zukunft entspreche, wie die vorläufigen Ergebnisrechnungen der Wirtschaftsjahre 1990 und 1991 zeigten. In einer ergänzenden Stellungnahme führten sie aus, nicht gegen das Stichtagsprinzip verstoßen zu haben, weil bei ihrer Bewertung nur Erkenntnisse berücksichtigt worden seien, die in ihren Wurzeln bereits am Bewertungsstichtag vorgelegen hätten. Der gerichtliche Sachverständige habe dagegen bei seiner Bewertung mit dem ersten nach dem Bewertungsstichtag gelegenen Jahr ein Wirtschaftsjahr herangezogen, das sich im Zehnjahresvergleich als absoluter „Ausreißer” erwiesen habe. Auch der zugrunde gelegte Kapitalisierungszins von 7% sei nicht realistisch. In ihrem Bericht gingen sie von einem der Realität entsprechenden Kalkulationszinsfuß von 9% bei unsicheren Unternehmenserträgen aus.

Im Zusammenhang mit den Äußerungen der Bayerischen Revisions- und Treuhandgesellschaft AG beantragte der Beschwerdeführer wiederholt die Einholung eines Obergutachtens.

b) Das Amtsgericht gab der Klage in vollem Umfang statt. Ausschlaggebend für die Höhe des Zugewinnausgleichs war vor allem der Wertansatz für die Beteiligung beider Parteien an der B. GmbH, wie er sich – so das Gericht – aus dem überzeugenden Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen ergebe.

Der Beschwerdeführer holte daraufhin eine weitere Stellungnahme zum Unternehmenswert der B. GmbH durch die DATAG, Deutsche Allgemeine Treuhand AG, ein, die auf der Grundlage der Jahresabschlüsse von 1981/1982 bis 1990/1991 zum Bewertungsstichtag einen Wert des Unternehmens zwischen 701.600 DM und 844.400 DM ermittelte.

c) Mit der Berufung griff der Beschwerdeführer unter anderem den Wertansatz für die Geschäftsanteile an der B. GmbH an. Der Beschwerdeführer machte insoweit geltend, das Amtsgericht habe es versäumt, das Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen kritisch zu würdigen und dabei Unklarheiten auszuräumen. Das Gericht habe sich mit der abweichenden Stellungnahme des Gegengutachters überhaupt nicht befaßt. Insbesondere die einseitige Berücksichtigung der Wirtschaftsjahre 1985 und 1986 schaffe ein falsches Bild, weil die Firma in diesen Jahren, bedingt durch die zweite Ölkrise, außergewöhnlich gute Betriebsergebnisse habe erzielen können. In diesem Zusammenhang beantragte der Beschwerdeführer, der außerdem einen zu niedrigen Kapitalisierungszinsfuß und die Nichtberücksichtigung der latenten Steuerlast rügte, erneut die Einholung eines Obergutachtens.

Das Oberlandesgericht holte zu den vom Beschwerdeführer aufgeworfenen Fragen ein Ergänzungsgutachten des gerichtlichen Sachverständigen ein. Dieser erklärte die Diskrepanzen zwischen seinen Äußerungen und den vorgelegten Privatgutachten mit dem unterschiedlichen Ansatz des Kapitalisierungszinsfußes, mit dem Umstand, daß die Privatgutachten prinzipiell nur Nachstichtagsergebnisse herangezogen hätten, sowie damit, daß es sich bei den privaten Gutachten um wohlwollende Bestätigungsschreiben von Parteisachverständigen handele. In dem Zeitraum 1984/85 habe sich am Mineralölmarkt nichts grundlegend Außergewöhnliches ereignet. Das Auf und Ab sei die einzige Konstanz in diesem Bereich.

d) Das Oberlandesgericht hat die amtsgerichtliche Entscheidung im wesentlichen bestätigt; im Hinblick darauf, daß es den kalkulatorischen Unternehmerlohn höher angesetzt hat als das Amtsgericht, hat es den vom Beschwerdeführer zu zahlenden Betrag auf 841.332 DM festgesetzt. Im übrigen hat sich das Oberlandesgericht hinsichtlich der Bewertung der Geschäftsanteile an der B. GmbH den Inhalt des Gutachtens und des Ergänzungsgutachtens des gerichtlich bestellten Sachverständigen zu eigen gemacht.

2. Mit seiner mit einem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung verbundenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG sowie einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot. Außerdem macht er sinngemäß eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Amts- und Oberlandesgericht hätten die auf den Anteilen an der B. GmbH ruhende latente Steuerbelastung unberücksichtigt gelassen. Auch hätten sie die vom gerichtlichen Sachverständigen ermittelten, willkürlich überhöhten Wertansätze ungeprüft übernommen, obwohl er immer wieder darauf hingewiesen habe, daß die Geschäftsjahre, auf die der Sachverständige allein abgestellt habe, von einer durch die Ölkrise geprägten Gewinnexplosion gekennzeichnet gewesen seien. Darüber hinaus habe er durch zwei Gutachten renommierter Wirtschaftsprüfungsgesellschaften belegt, daß der angenommene Kapitalisierungszinssatz mit lediglich 0,1% über dem Satz, der zum Bewertungsstichtag am Kapitalmarkt für sichere Kapitalanlagen zu erzielen gewesen sei, den branchenbezogenen Risiken nicht ausreichend Rechnung getragen habe. Auch diesen Ansatz hätten die Gerichte jedoch ohne näheres Eingehen auf seine Argumente und ohne Einholung des von ihm mehrfach beantragten Obergutachtens übernommen.

3. Die Bayerische Staatsregierung und die Klägerin des Ausgangsverfahrens haben Gelegenheit erhalten, zu der Verfassungsbeschwerde Stellung zu nehmen. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet, insbesondere liege ein Verstoß gegen das Willkürverbot nicht vor. Auch nach Auffassung der Klägerin ist die Verfassungsbeschwerde nicht begründet.

 

Entscheidungsgründe

II.

1. Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an (§ 93 b Satz 1 BVerfGG), weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor.

a) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Daraus folgt allerdings nicht, daß sie auch verpflichtet wären, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden (vgl. BVerfGE 88, 366 ≪375 f.≫ m.w.N.). Lediglich die wesentlichen, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Gründen verarbeitet werden (vgl. BVerfGE 47, 182 ≪189≫). Geht ein Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so läßt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133 ≪146≫).

b) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht.

aa) Die aufgezeigten Grundsätze sind einmal mit Blick auf die zentrale und zwischen den Beteiligten des Ausgangsverfahrens strittige Frage verletzt, ob für die Bewertung der B. GmbH lediglich die Wirtschaftsjahre 1985 bis 1986 als prägend zugrunde zu legen oder ob auch die erheblich niedrigeren Erträge der Vorjahre und die weitere Geschäftsentwicklung zu berücksichtigen waren, letzteres jedenfalls dann, wenn die Wurzeln für diese Entwicklung schon zum Stichtagszeitpunkt angelegt waren. Sowohl das Amtsgericht als auch das Oberlandesgericht haben sich für die zuerst genannte Auffassung entschieden, ohne dies näher zu begründen. Sie haben sich darauf beschränkt, auf Gutachten und Ergänzungsgutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen zu verweisen und diese sich, weil „überzeugend” (so das Amtsgericht), zu eigen zu machen. Warum die Gerichte zu dieser Überzeugung gelangt sind, ist den Entscheidungsgründen ihrer Urteile, auch unter Zuhilfenahme der genannten Gutachten, nicht zu entnehmen. Der Sachverständige ist seinerseits eine nachvollziehbare Begründung dafür, daß ausschließlich auf Geschäftsjahre mit besonders hohen Gewinnen abzustellen sei, schuldig geblieben. Er hat zwar einerseits bestritten, daß sich in der fraglichen Zeit auf dem Mineralölmarkt etwas Außergewöhnliches ereignet habe, kommt jedoch andererseits zu dem Ergebnis, das Auf und Ab sei die einzige Konstanz in diesem Bereich gewesen. Eine Erklärung dafür, warum er trotz der auch von ihm eingeräumten Schwankungen auf dem Mineralölmarkt allein die Geschäftsjahre 1985 und 1986 als repräsentativ angesehen hat, gibt der Sachverständige in seinem Gutachten nicht.

Die unkritische Übernahme des genannten Bewertungsansatzes in den Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen legt die Annahme nahe, daß Amts- und Oberlandesgericht den gegenteiligen Standpunkt des Beschwerdeführers nicht zur Kenntnis genommen, ihn jedenfalls nicht in Erwägung gezogen haben. Dies gilt um so mehr, als in den angegriffenen Entscheidungen auch jede Auseinandersetzung mit der Argumentation des Beschwerdeführers fehlt, bei den Betriebsergebnissen der Jahre 1985 und 1986 habe es sich, bedingt durch die zweite Ölkrise, um „Ausreißer” gehandelt. Auf die vom Beschwerdeführer zur Stützung seiner Auffassung beigebrachten privatgutachterlichen Stellungnahmen sind das Amts- und das Oberlandesgericht ebenfalls mit keinem Wort eingegangen, obwohl sich eine Auseinandersetzung damit angesichts der deutlich niedrigeren Bewertungsergebnisse, zu denen die Privatgutachten wegen ihres anderen Bewertungsansatzes gelangt waren, hätte aufdrängen müssen. Auch von daher ist nicht ersichtlich, daß das Verteidigungsvorbringen des Beschwerdeführers zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen worden ist.

bb) Entsprechendes gilt zum anderen für die Behandlung der Frage, welcher Kapitalisierungszinsfuß bei der Bewertung der B. GmbH zugrunde zu legen war. Auch insoweit hatte der Beschwerdeführer, gestützt auf die von ihm vorgelegten Gutachten, einen von dem Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen deutlich abweichenden, zu unterschiedlichen Ergebnissen führenden Standpunkt vertreten, so daß die Gerichte sich hätten veranlaßt sehen müssen, darauf einzugehen. Der genannte Sachverständige selbst hat die Einstufung des unternehmerischen Risikos mit 0,1 Prozentpunkten lediglich als angemessen bezeichnet und ausdrücklich erklärt, er verzichte auf die Erläuterung seiner Plausibilitätsprüfung. Unter diesen Umständen konnten die Gerichte sich nicht, ohne die Argumente des Beschwerdeführers wenigstens im Ansatz aufzugreifen, ohne weitere Begründung dem Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen anschließen.

2. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf dem genannten Verfassungsverstoß. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Gerichte bei gebührender Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers zu einem anderen, für diesen günstigeren Ergebnis gelangt wären.

3. Das Urteil des Oberlandesgerichts ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 93 c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Von einer Aufhebung auch des amtsgerichtlichen Urteils sieht die Kammer im Interesse des Beschwerdeführers an einem raschen Abschluß des Verfahrens ab (vgl. BVerfGE 84, 1 ≪5≫).

4. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung.

5. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Seidl, Hömig, Steiner

 

Fundstellen

Haufe-Index 1134553

NJW 1997, 122

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