Besonders praxisrelevant ist, dass auch Urteile, die die Ausübung eines richterlichen Ermessens voraussetzen (z.B. Schmerzensgeld oder die Schätzbefugnis) in der Berufungsinstanz voll überprüft werden können, ebenso wie die Auslegung von Willenserklärungen. In diesem Bereich können zwar auch revisible Rechtsfehler auftreten (vgl. Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 3. Aufl., § 37 Rn 72 ff; 100 ff.), die berufungsrechtliche Kontrolle setzt allerdings deutlich früher ein. Vertragsauslegungen, die rechtlich möglich, aber nicht überzeugend sind, können und müssen vom Berufungsgericht korrigiert werden (vgl. BGH, Urt. v. 14.7.2004 – VIII ZR 164/03, NJW 2004, 2751), ebenso Schmerzensgeldentscheidungen (BGH, Urt. v. 28.3.2006 – VI ZR 46/05, NJW 2006, 1589, 1561) oder Haftungsabwägungen und sonstige Ermessensausübungen (§ 17 StVG, § 254 BGB, vgl. OLG Oldenburg, Urt. v. 13.7.2011 â^’ 4 U 16/11, NJW-RR 2012, 97 f.; Eichele/Hintz/Oberheim, a.a.O., Kap. G, Rn 64).

Im Bereich der materiell-rechtlichen Überprüfung ist das Berufungsgericht nicht an die geltend gemachten Berufungsgründe gebunden. D.h. bei einer wirksamen Berufungsrüge wird das gesamte Urteil auch auf solche materiellen Rechtsfehler geprüft, die nicht gerügt wurden, denn die rechtliche Würdigung des tatsächlichen Parteivorbringens ist Aufgabe des Gerichts (vgl. BGH, Urt. v. 8.6.2004 – X ZR 283/02, NJW 2004, 3420 f.). Geht es um einen Rechtsfehler in verfahrensrechtlicher Hinsicht, gibt es von Amts wegen zu beachtende Verfahrensvorschriften, aber auch solche, die nur auf entsprechende Rüge gem. §§ 529 Abs. 2 S. 1, 520 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 ZPO beachtet werden (wohl h.A. BGH, Urt. v. 11.5.2011 â^’ VIII ZR 42/10, NJW 2011, 2736 ff.). Ein entsprechender Rechtssatz, demzufolge auch bei einem Verfahrensfehler das gesamte Verfahren von Amts wegen auf seine Ordnungsgemäßheit hin überprüft wird (vgl. BGH, Urt. v. 12.3.2004 – V ZR 257/01, NJW 2004, 1876), ist vereinzelt geblieben: "Ob ein Verfahrensfehler vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstrichters zu beantworten, und zwar auch dann, wenn dieser Standpunkt verfehlt ist und das Berufungsgericht ihn nicht teilt" (BGH, Urt. v. 26.10.2011 – VIII ZR 222/10, NJW 2012, 304).

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