I. Vorbemerkung

1. Prüfungsreihenfolge bei (vermeintlicher) Fristversäumnis

Versäumt der Angeklagte eine strafprozessuale Frist (z.B. die Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl oder die Frist zur Einlegung einer sofortigen Beschwerde), bricht nach Entdeckung des Malheurs oftmals Hektik, wenn nicht gar Panik aus. Diese äußert sich dann häufig darin, dass die erste gebotene Maßnahme, nämlich eine sorgfältige Prüfung, ob eine ordnungsgemäße Zustellung erfolgt ist und so die vermeintlich versäumte Frist überhaupt wirksam in Gang gesetzt wurde, unterbleibt und stattdessen Hals über Kopf Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt werden.

Ein solcher „zweiter Schritt vor dem ersten“ ist jedoch problematisch: Zum einen wird einem möglichen Verteidigungsansatz gar nicht erst nachgegangen, und zum anderen bleibt der Erfolg von Wiedereinsetzungsanträgen oftmals aus, sei es, weil der behauptete Wiedereinsetzungsgrund schon nicht hinreichend dargelegt wird, sei es, weil es an der gem. § 45 Abs. 2 S. 1 StPO erforderlichen Glaubhaftmachung der für die Entscheidung bedeutsamen Tatsachen fehlt.

 

Achtung:

Eigene Erklärungen des Antragstellers sind kein Mittel der Glaubhaftmachung, und zwar auch dann nicht, wenn der behauptete Wiedereinsetzungsgrund besonders naheliegend erscheint (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Aufl. 2017, § 45 Rn 9). Auch eine eigene eidesstattliche Versicherung des Antragstellers genügt nicht.

Noch am ehesten gelingt eine Wiedereinsetzung, wenn das Fristversäumnis nicht auf einem Verschulden des Angeklagten, sondern auf dem seines Verteidigers beruht. Anwaltsverschulden wird dem Angeklagten nicht zugerechnet.

Allerdings ist auch in derartigen Fällen auf eine sorgfältige und vor allem vollständige Abfassung des Wiedereinsetzungsantrags zu achten. Das bloße Vorbringen, die Frist sei „aufgrund eines Kanzleiversehens“ nicht eingehalten worden, ist unzureichend. Vielmehr muss der Antrag nicht nur über die versäumte Frist und den Hinderungsgrund Angaben enthalten, sondern auch über den Zeitpunkt des Wegfalls des Hindernisses. Dies gilt nach der Rechtsprechung des BGH ausdrücklich auch dann, wenn der Verteidiger eigenes Verschulden geltend macht (BGH NStZ 2013, 474).

2. Ohne ordnungsgemäße Zustellung kein Fristbeginn

Bevor nach Wiedereinsetzungsgründen gesucht wird, ist deshalb zu prüfen, ob die vermeintlich versäumte Frist tatsächlich bereits zu laufen begonnen hat. Ist dies nicht der Fall, bedarf es bei einer „Versäumnis“ keiner Wiedereinsetzung. Insbesondere bei Zustellungen gem. § 35 Abs. 2 StPO (z.B. einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) können sich durchaus erfolgversprechende Verteidigungsansätze ergeben.

Die nachfolgenden Ausführungen geben einen Überblick über die allgemeinen Wirksamkeitsvoraussetzungen der Zustellung sowie über die in Betracht kommenden Formen der Ersatzzustellung und zeigen mögliche Fehlerquellen auf, die der Verteidiger zugunsten seines Mandanten nutzen kann.

II. Anordnung und Durchführung der Zustellung

1. Voraussetzungen

Die Zustellung von Entscheidungen ordnet der Vorsitzende an, § 36 Abs. 1 S. 1 StPO. Fehlt diese Anordnung, ist die Zustellung bereits deshalb unwirksam (Meyer-Goßner/Schmitt, § 36 Rn 7). Die Ausführung der Zustellung obliegt nach § 36 Abs. 1 S. 2 StPO dagegen der Geschäftsstelle.

2. Besonderheiten

a) Strafbefehlsverfahren

Ist der Zustellungsempfänger der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig, stellt sich die Frage, ob dem zuzustellenden Schriftstück eine Übersetzung beizufügen ist. Für Urteile ergibt sich dies zweifelsfrei aus § 37 Abs. 3 StPO, der jedoch für andere Schriftstücke als Urteile keine Regelung enthält.

Es war deshalb in der deutschen Rechtsprechung umstritten, ob im Strafbefehlsverfahren auch eine Übersetzung des Strafbefehls zugestellt werden muss. Während das LG Stuttgart (NStZ-RR 2014, 2016) dies zur Sicherung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens und der Wahrung effektiver Verteidigungsmöglichkeiten für zwingend hielt, hat das Landgericht Ravensburg (NStZ-RR 2015, 219) die Erforderlichkeit einer Übersetzung verneint.

Mit Urteil vom 12.10.2017 (NZV 2017, 530) hat nunmehr der EuGH in die Diskussion eingegriffen und klargestellt, dass Angeklagte eine schriftliche Übersetzung des Strafbefehls erhalten müssen, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen. Dies ist im Hinblick darauf, dass der Angeklagte im Strafbefehlsverfahren selbst aktiv werden muss, um den ersten Zugang zu Gericht (vgl. BVerfG NJW 1975, 1405) zu erhalten, zutreffend. Zudem spricht auch § 410 Abs. 3 StPO, der den rechtskräftigen Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil gleichstellt, für eine Gleichbehandlung von Urteil und Strafbefehl. Wenngleich sich der EuGH nicht explizit zur Frage der Wirksamkeit einer Zustellung des Strafbefehls ohne Übersetzung geäußert hat, wird man fortan davon ausgehen müssen, dass ein nicht übersetzter Strafbefehl nicht wirksam zugestellt werden kann (so auch Sandherr NZV 2017, 531).

b) Strafvollstreckungsverfahren

Bei Entscheidungen im Strafvollstreckungsverfahren, etwa bei einem Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ober bei Entscheidungen nach § 57 StGB, sollen schriftliche Übersetzungen dagegen nicht geboten sein (OLG Köln NSt...

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