Liest man manche Revisionsentscheidungen, stellt sich u.U. die Frage, welchen StPO-Text das Tatgericht eigentlich vorliegen hatte, als es entschieden oder das verkündete Urteil schriftlich begründet hat, z.B. hinsichtlich des Beschlusses des BGH vom 21.1.2016 (2 StR 433/15) und dem diesen zugrundeliegenden landgerichtlichen Urteil. Das LG hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Dagegen wird die Verfahrensrüge erhoben, und zwar als Inbegriffsrüge (zu den Begründungsanforderungen s.u. IV.). Der Rüge lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Das landgerichtliche Urteil wurde am 26.5.2015 verkündet. Rund einen Monat später, am 23.6.2015, verfügte der Vorsitzende die Übersendung der Kopien Bl. 461–463 d.A. an den Sachverständigen Prof. Dr. G. "unter Bezug auf das heute geführte Telefonat". Bei den übersandten Kopien handelte es sich entweder um den vorläufigen Arztbrief vom 16.12.2010, in dem u.a. die Ergebnisse der "CT-Schädel vom 4.12.2010" geschildert wurden oder aber um zwei polizeiliche Vermerke und einen Laborbefund betreffend den bei der Geschädigten entnommenen Abstrich. Mit einem am 1.5.2015 beim LG eingegangenen Schreiben übersandte der Sachverständige daraufhin ein auf den 29.6.2015 datiertes Gutachten betreffend die "Befunde in Bezug auf die kognitive Leistungsfähigkeit und Realitätswahrnehmung" der Geschädigten im gegenständlichen Tatzeitraum, in dem er sich unter Bezugnahme auf die "CT mit Angiographie vom 4.12.2010" zur Wahrnehmungsfähigkeit der Geschädigten sachverständig äußerte. In dem Anschreiben ließ der Sachverständige ergänzend anfragen, ob die an ihn gerichteten Fragen "durch die Erklärungen" abgedeckt seien. Das schriftliche Urteil gelangte am 14.7.2015 zur Geschäftsstelle. In den Urteilsgründen wird das von Prof. Dr. G. in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten mitgeteilt und im Rahmen dessen auch das rund eineinhalb Seiten umfassende schriftliche Gutachten vom 29.6.2015 nahezu vollständig und wörtlich wiedergegeben.

Die Verfahrensrüge hatte wegen des – m.E. eklatanten – Verstoßes gegen § 261 StPO Erfolg. Alles andere wäre überraschend gewesen. Dazu gibt der BGH dann einen kleinen Grundkurs zum "Inbegriff der Hauptverhandlung": Grundlage der Überzeugungsbildung des Richters und der Urteilsfindung darf nur das sein, was innerhalb der Hauptverhandlung, d.h. vom Aufruf der Sache bis zum letzten Wort des Angeklagten mündlich so erörtert worden ist, dass alle Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten (u.a. BGH NStZ 2001, 595, 596; KK-Ott, Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl., § 261 Rn 6). Gründet das Gericht seine Überzeugung auch auf Tatsachen, die nicht Gegenstand der Hauptverhandlung waren, zu denen sich also der Angeklagte dem erkennenden Gericht gegenüber nicht abschließend äußern konnte, so verstößt das Verfahren nicht nur gegen § 261 StPO, sondern zugleich auch gegen den in § 261 StPO zum Ausdruck kommenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, vgl. BGHSt 22, 26, 28 f.). Es dürfen mithin weder Erkenntnisse, die während (vgl. BGH NStZ 2001, 595, 596; Beschl. v. 20.10.1999 – 5 StR 496/99) noch solche, die erst nach der Urteilsverkündung (vgl. BGH, Beschl. v. 3.11.2010 – 1 StR 449/10; vgl. auch OLG Karlsruhe Justiz 1998, 601) erlangt wurden, zur schriftlichen Begründung der gewonnenen Überzeugung herangezogen werden. Gegen die Grundsätze hatte das LG verstoßen. Die in dem schriftlichen Sachverständigengutachten vom 29.6.2015 gewonnenen und im Rahmen der Beweiswürdigung verwerteten Erkenntnisse hat das LG erst nach der Urteilsverkündung gewonnen, ohne dass die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit hatten, hierzu Stellung zu nehmen.

 

Hinweis:

Der BGH verweist allerdings darauf, dass die Übernahme des Gutachtens in die schriftlichen Urteilsgründe zwar dann unschädlich sein könnte, wenn zweifelsfrei feststünde, dass das in der Beratung – rechtlich fehlerfrei – gewonnene Ergebnis lediglich durch Umstände bestätigt wurde, die nach Verkündung des Urteils entstanden sind (vgl. insoweit BGH, Urt. v. 21.12.1983 – 3 StR 444/83). Das war hier aber nicht der Fall. Denn die Strafkammer ist gerade nicht von einer nur späteren Bestätigung ihrer – unabhängig von dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G. – gewonnenen Überzeugung ausgegangen (vgl. insoweit OLG Karlsruhe Justiz 1998, 601), sondern hat "bereits verschwiegen" – so die Formulierung des BGH –, dass es sich um ein erst nachträglich erstattetes Gutachten handelt.

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