Die Anwaltschaft macht insgesamt immer noch zu wenig Gebrauch von der Menschenrechtsbeschwerde, einem (außerordentlichen) Rechtsbehelf. Der hohe Prozentsatz unzulässiger bzw. gestrichener Beschwerden wirkt auf den ersten Blick sicher abschreckend. Über weitere Gründe für die Zurückhaltung lässt sich nur spekulieren. Gewiss spielt auch die Scheu, in einer anderen als der Muttersprache zu arbeiten, eine Rolle. Dabei bietet eine Beschwerde angesichts des weiten Schutzbereichs der Menschenrechte Möglichkeiten, die teilweise weit über die eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens hinausgehen. Man sollte sich stets vor Augen führen, dass jeder erfolgreichen Menschenrechtsbeschwerde im Regelfall (mindestens) eine erfolglose Verfassungsbeschwerde vorangegangen ist. Es sollte daher viel häufiger heißen: "Dann gehen wir eben bis zum Gerichtshof für Menschenrechte (und nicht "nur" bis zum Bundesverfassungsgericht)."

Deutschland taucht in der Statistik des Gerichtshofs verglichen mit anderen, auch wesentlich kleineren Ländern relativ selten auf. Im Jahre 2015 gab es insgesamt elf Entscheidungen gegen Deutschland, aber beispielsweise 84 gegen Rumänien. Aus diesen Zahlen könnte man den Schluss ziehen, dass es hierzulande im Gegensatz zu manch mehr oder weniger autokratisch regiertem Mitgliedstaat nur wenige Menschenrechtsverstöße gibt. Die in den vergangenen Jahren rasant gestiegene Zahl von Verfassungsbeschwerden spricht aber gegen eine solche Annahme. Interessant ist, dass die Erfolgsquote der (zulässigen) Beschwerden vergleichsweise hoch ist; 2015 waren mehr als 50 % der Beschwerden gegen Deutschland erfolgreich. In den vorherigen Jahren lag die Erfolgsquote teilweise sogar noch deutlich höher (vgl. www.echr.coe.int/Documents/Stats_violation_1959_2015_ENG.pdf ).

Schwerpunkt dieses Beitrags ist das materielle Recht, aber auch auf die Änderung des Art. 47 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs für Menschenrechte mit Wirkung zum 1.1.2016 und die sich daraus ergebenden verfahrensrechtlichen Neuerungen wird nachfolgend eingegangen.

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