I. Arbeitsvertragsrecht

1. Benachteiligung wegen Schwerbehinderung im öffentlichen Dienst

Die vier zu besprechenden BAG-Entscheidungen betreffen die von schwerbehinderten Menschen geltend gemachten Ansprüche auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen eines Verstoßes gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot. In beiden Fällen war entscheidungserheblich, ob der öffentliche Arbeitgeber seiner aus § 82 S. 2 SGB IX a.F. (seit dem 1.1.2018: § 165 S. 2 SGB IX) herrührenden Verpflichtung nachgekommen war, Bewerber um einen Arbeitsplatz zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, s. hierzu bereits BAG, Urt. v. 23.1.2020 – 8 AZR 484/18 (s. hierzu Gundel/Sartorius, auch näher zum verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruch nach § 15 AGG, zu seiner Höhe und zur verfahrensrechtlichen Durchsetzung, ZAP F. 17 R, S. 1011 ff.).

a) Behinderung, Vorstellungsgespräch, Verzicht

Dem 8. Senat des BAG (BAG, Urt. v. 26.11.2020 – 8 AZR 59/20) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Klägerin bewarb sich auf eine Assistenzstelle, die zu 36 % unbefristet und mit dem Rest der Arbeitszeit befristet war:

Zitat

„Sehr geehrter Herr (...), sehr geehrte Frau (...),

auf das nette fernmündliche Gespräch mit Ihnen nehme ich gerne Bezug und bewerbe mich um die o.g. Stelle, auch wenn heute noch nicht feststeht, mit wie viel Prozent diese letztlich angetreten werden kann. Da es sich bei der Stelle vorrangig um eine Stelle beim Jugendamt handelt, möchte ich mein Glück versuchen.

Inzwischen will bei mir auch keine so rechte Freude mehr aufkommen, denn immer wieder Absagen zu bekommen, ist auch nicht wirklich motivierend, freundlich und hilfreich, dabei fühle ich mich mit meinen 54 Jahren keineswegs alt und verbraucht. Auch die Tatsache, dass ich schwerbehindert bin, ist keinesfalls ein Indiz dafür, dass ich unfähiger bin als andere, eine gute Arbeit abzuliefern. (...)

Wenn Sie nun beim Lesen meiner Bewerbung bis hierher gekommen sind, dann freut es mich. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn Sie mir eine Chance geben, uns bei einem persönlichen Gespräch näher kennenzulernen. Bitte laden Sie mich nur dann zu einem Vorstellungsgespräch ein, wenn Sie mich in die engere Wahl nehmen, alles andere macht m.E. wenig Sinn.

So warte ich nun auf Ihr hoffentlich positives Antwortschreiben und sehe diesem gespannt und dankend entgegen. (...)”

Eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erfolgte nicht.

Ausgangspunkt des BAG ist die Vermutung des § 22 AGG: Nach st. Rspr. des 8. Senats begründet der Verstoß des Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zugunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, mithin auch der Verstoß des öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 82 S. 2 SGB IX a.F. bzw. § 165 S. 3 SGB IX n.F. geregelte Pflicht, eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer-)Behinderung. Diese Pflichtverletzungen sind grds. geeignet, den Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen uninteressiert zu sein (vgl. BAG, Urt. v. 23.1.2020 – 8 AZR 484/18, Rn 37, NZA 2020, 851; BAG, Urt. v. 16.5.2019 – 8 AZR 315/18, Rn 22 m.w.N., BAGE 167, 1; BAG, Urt. v. 11.8.2016 – 8 AZR 375/15, Rn 25, NZA 2017, 43; BAG, Urt. v. 22.10.2015 – 8 AZR 384/14, Rn 35; BAG, Urt. v. 26.6.2014 – 8 AZR 547/13, Rn 45 m.w.N.). Der Arbeitgeber hat dann die Vermutung zu widerlegen (BAG, Urt. v 23.1.2020 – 8 AZR 484/18, Rn 37, NZA 2020, 851; BAG, Urt. v. 16.5.2019 – 8 AZR 315/18, Rn 22, BAGE 167, 1; BAG, Urt. v. 28.9.2017 – 8 AZR 492/16, Rn 26, NZA 2018, 519 jeweils m.w.N.).

Die Klägerin konnte aber – trotz ihrer Bitte sie nicht einzuladen, wenn sie nicht in die nähere Wahl komme – nicht rechtswirksam auf die zugunsten schwerbehinderter Menschen bestehende Einladungspflicht verzichten. Das BAG begründet diese Auslegung zunächst mit dem Wortlaut des § 82 S. 2 SGB IX a.F., jetzt § 165 S. 3 SGB IX n.F. „werden sie eingeladen”, der eine Einladungspflicht des öffentlichen Arbeitgebers normiert. Der Gesetzgeber unterscheidet in Kap. 3 von Teil 2 des SGB IX a.F., nun in Kap. 3 von Teil 3 des SGB IX n.F. selbst deutlich zwischen den sonstigen Pflichten der Arbeitgeber und den Rechten der schwerbehinderten Menschen. Das Gesetz bringe damit zum Ausdruck, dass nicht jeder Pflicht des Arbeitgebers ein entsprechender Anspruch bzw. ein entsprechendes Recht gegenüberstehe. Sollen Ansprüche bestehen, würden diese, wie bspw. in § 81 Abs. 4 SGB IX a.F. bzw. § 164 Abs. 4 SGB IX n.F., ausdrücklich als solche bezeichnet. Das sei aber in § 82 S. 2 SGB IX a.F. bzw. § 165 S. 3 SGB IX n.F. ausdrücklich nicht erfolgt. Auch die Gesetzesgeschichte und der Vergleich zu den Bestimmungen in § 81 Abs. 1 SGB IX a.F. bzw. § 167 Abs. 1 SGB IX n.F. belege, dass § 82 S. 2 SGB IX a.F. und § 165 S. 3 SGB IX n.F. nur Pflichten des Arbeitgebers und keine Ansprüche der Bewerber normieren. Zuletzt – so der 8. Senat – folge im Umkehrschluss aus dem gesetzlich ausdrücklich eingeräumten Recht des Bewerbers in § 81 Abs. 1 S. 10 SGB IX a.F. bzw. § 164 Abs. 1 S. 10 SGB IX n.F., auf die Beteiligung der Schwerbehindertenvertr...

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