Gemäß der Generalklausel des § 140 Abs. 2 StPO ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Mitwirkung eines Verteidigers wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann. Die Vorschrift stellt insoweit einen Auffangtatbestand für Fälle dar, in denen eine Beiordnung nach § 140 Abs. 1 StPO ausscheidet. Sie gilt in der Vollstreckung entsprechend, etwa im Verfahren über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung (hierzu Hillenbrand ZAP F. 22, S. 799).

1. Schwere der Tat

Die Schwere der Tat gebietet die Mitwirkung eines Verteidigers, wenn sich aus einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass dem Angeklagten einschneidende Rechtsfolgen drohen. Hierbei spielt vor allem die Straferwartung eine Rolle, es sind allerdings auch mittelbare Rechtsfolgen in die Prüfung einzubeziehen (sog. Gesamtstrafübel).

a) Straferwartung

Nach gefestigter Rechtsprechung ist ab einer Straferwartung von einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe die Mitwirkung eines Verteidigers geboten (Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

 

Hinweis:

Erforderlich, aber auch ausreichend ist es, dass eine Freiheitsstrafe in dieser Größenordnung ernsthaft in Betracht kommt, einer ganz überwiegenden oder gar an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedarf es nicht. Ob die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, ist nach richtiger Ansicht unerheblich (vgl. KK-Laufhütte, 7. Aufl. 2013, § 140 StPO Rn. 21 [im Folgenden KK-Bearbeiter]).

Bei der Prüfung der Straferwartung sind auch bereits ausgeurteilte Strafen zu berücksichtigten, sofern diese bei der Bildung einer Gesamtstrafe einzubeziehen sind. Ebenfalls der Berücksichtigung bedürfen offene Bewährungen, wenn die Summe der im neuen Verfahren zu erwartenden Strafe und der von einem möglichen Widerruf der Strafaussetzung betroffenen Strafen ein Jahr erreicht oder darüber liegt.

Anders verhält es sich jedoch u.U. dann, wenn in einem neuen Verfahren wegen des Bagatellcharakters der Tat nur eine geringe Sanktion zu erwarten ist. Wird gegen einen unter Bewährung stehenden Angeklagten wegen der neuerlichen Straftat zunächst nur ein Strafbefehl mit einer geringen Geldstrafe erlassen, soll der zu erwartende Strafumfang bereits in groben Zügen konkretisiert sein, so dass die Voraussetzung für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers selbst dann nicht vorlägen, wenn der Angeklagte kurz zuvor zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt wurde und die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe in Betracht kommt (LG Frankfurt NStZ-RR 2011, 183). Die Einbeziehung der weiteren Straftat würde dann nur eine geringfügige, nicht wesentlich ins Gewicht fallende Erhöhung der Einsatzstrafe nach sich ziehen (vgl. auch OLG Stuttgart NStZ-RR 2012, 214). Auch drohe der Widerruf einer Strafaussetzung zur Bewährung regelmäßig nicht, wenn wegen der neuen Tat zunächst ein Strafbefehl über 20 Tagessätze erlassen wird (LG Magdeburg, Beschl. v. 12.12.2012 – 21 Qs 94/12).

Gleiches soll gelten, wenn zwar anstatt eines Strafbefehls Anklageerhebung erfolgt, aber gleichwohl nur eine Geldstrafe droht (vgl. LG Kleve NStZ-RR 2015, 51). Diese Auffassung erscheint jedoch jedenfalls in ihrer Allgemeinheit nicht unbedenklich: Wird wegen der neuen Straftat kein Strafbefehl beantragt, sondern Anklage erhoben, droht häufig eben nicht nur eine Geld-, sondern auch eine Freiheitsstrafe. Eine abschließende Bewertung dahingehend, dass eine Geldstrafe ausreicht, wird zudem in dem Verfahrensstadium, in dem über eine Verteidigerbestellung zu entscheiden ist, oftmals noch gar nicht möglich sein. Zudem werden auch bei Delikten aus dem unteren Kriminalitätsbereich im Falle offener Bewährungen häufig Freiheitsstrafen verhängt, und ein Bewährungsbruch hat in der Mehrzahl der Fälle zur Folge, dass die Vollstreckung der neuen Freiheitsstrafe nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt wird. Darüber hinaus hindert die Verhängung einer Geldstrafe den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nicht zwangsläufig (hierzu Hillenbrand ZAP F. 22, S. 799).

b) Sonstige Nachteile

Die Prüfung, ob dem Angeklagten im Verurteilungsfalle einschneidende Rechtsfolgen drohen, ist nicht auf die reine Straferwartung beschränkt. Vielmehr sind darüber hinaus auch mittelbare Nachteile, mit denen der Angeklagte zu rechnen hat, in die Prüfung einzubeziehen.

In Betracht kommen hierbei u.a.

  • aufenthaltsrechtliche Nachteile (insbesondere bei Betäubungsmittelstraftaten, § 54 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, vgl. LG Oldenburg StraFo 2013, 22; LG Heilbronn NStZ-RR 2002, 269),
  • Verlust der Beamtenrechte (Meyer-Goßner/Schmitt, § 140 Rn. 25),
  • Nachteile in einem Einbürgerungsverfahren (§ 10 Abs. 1 Nr. 5 StAG),
  • nachteilige Entscheidungen im Rahmen eines laufenden Gnadenverfahren (LG Lübeck StraFo 2010, 293),
  • massive haftungsrechtliche Folgen (OLG Hamm NZV 1989, 244),
  • drohende Unterbringung gem. § 64 StGB (OLG Karlsruhe NZV 1993, 165; OLG Bremen StraFo 1996, 61) oder
  • das Scheitern der Zurücks...

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