In der Praxis stellt sich häufig die Frage, wie zu verfahren ist, wenn bei der Bestellung des Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO das Verfahren (vgl. oben III.) nicht eingehalten und dem Beschuldigten – ggf. zu schnell – ein Verteidiger beigeordnet worden ist, bei dem es sich nicht um den "Anwalt des Vertrauens" handelt. In der Regel wird dann später vom Beschuldigten die Entpflichtung dieses Verteidigers und seine Auswechselung gegen den dann vom Beschuldigten benannten "Anwalt des Vertrauens" beantragt. Fraglich ist, ob auf diese Entpflichtung/Auswechselung auch die grundsätzlich strengen Regeln zur Entpflichtung des einmal bestellten Pflichtverteidigers anzuwenden sind (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 2912 ff. m.w.N.) oder ob ggf. ein großzügigerer Maßstab gilt (so wohl BGH StraFo 2010, 199; vgl. dazu auch Strafverteidigervereinigungen StV 2010, 109, 110).

 

Hinweis:

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Entpflichtung bzw. Auswechselung des Pflichtverteidigers, der unter Verletzung der einzuhaltenden Verfahrensregeln bestellt worden ist, wird i.d.R. erfolgen müssen. Der Beiordnung eines anderen, regelmäßig des dann vom Beschuldigten benannten Rechtsanwalts, dürften keine "wichtigen Gründe" i.S.d. § 142 Abs. 1 S. 1 StPO entgegenstehen (vgl. auch Lam/Meyer-Mews NJW 2012, 177, 180; Jahn, a.a.O. S. 275, 287; ders. StraFo 2014, 177, 191 ff.).

Wird entpflichtet/ausgewechselt, verbleiben die dadurch entstehenden Mehrkosten bei der Staatskasse (zutreffend AG München StV 2010, 668 [Ls.]; unzutreffend a.A. offenbar LG Osnabrück StV 2010, 563 m. abl. Anm. Burhoff StRR 2010, 270). Der bei der Bestellung des ersten Verteidigers gemachte Fehler, der zur Auswechselung führt, kann nicht zu Lasten des Beschuldigten bzw. des neuen Pflichtverteidigers gehen. Gebührenrechtliche Beschränkungen bei der Beiordnung des neuen Pflichtverteidigers sind daher unzulässig (s.a. Burhoff a.a.O.; Jahn, a.a.O., S. 275, 287 Fn 53).

Im Übrigen ist auf folgende Rechtsprechungsbeispiele hinzuweisen:

  • Ist die Bestellung erfolgt, ohne dass dem Beschuldigten eine angemessene Frist eingeräumt wurde, ist die Bestellung aufzuheben (LG Bochum StV 2011, 155 [Ls.] m. Anm. Bleicher StRR 2011, 65; LG Siegen StRR 2015, 463; AG Stuttgart StV 2010, 677). Die Anforderungen an die Darlegung eines gestörten Vertrauensverhältnisses zwischen Beschuldigtem und Verteidiger dürfen in diesen Fällen nicht überspannt werden (BGH StV 2013, 610 = StraFo 2013, 23; LG Stendal StV 2015, 543 [auch ohne Darlegung gewichtiger Anhaltspunkte]; AG Bitterfeld-Wolfen StV 2014, 281).
  • Ist die Bestellung des Pflichtverteidigers vor Ablauf der dem Beschuldigten gesetzten angemessenen Frist (vorschnell) erfolgt (zur Fristsetzung s.o. III. 2. b), ist die Bestellung aufzuheben, wenn der Beschuldigte noch innerhalb der Frist einen anderen Verteidiger benennt (OLG Düsseldorf StV 2010, 350 = StRR 2010, 222 m. Anm. Burhoff; AG München StV 2011, 668 [Ls.]). Die Bestellung wird auch aufgehoben, wenn sich vor der Beiordnung des vom Beschuldigten benannten (Wahl-)Verteidigers ein anderer vom Beschuldigten beauftragter Rechtsanwalt (bei der StA) gemeldet hat; Verzögerungen in der Übermittlung von dessen Beiordnungsantrag an das Gericht gehen nicht zu Lasten des Beschuldigten (LG Bonn StV 2010, 180).
  • Ist die Bestellung des Pflichtverteidigers ohne Anhörung des Beschuldigten erfolgt, ist sie ebenfalls ggf. aufzuheben (OLG Braunschweig StraFo 2013, 115, 116 = StRR 2013, 102; OLG Dresden NStZ-RR 2012, 213; OLG Düsseldorf StV 2010, 350 = StRR 2010, 222 m. Anm. Burhoff; OLG Jena StraFo 2012, 139, 140; LG Dresden StraFo 2012, 14; LG Frankfurt/O. StV 2010, 235; LG Landau StV 2015, 23; LG Siegen StRR 2015, 463; LG Siegen/AG Arnsberg StRR 2012, 104 m. Anm. Nobis; LG Stendal StV 2015, 543; LG Stuttgart StRR 2010, 442 [Ls.]; Lam/Meyer-Mews NJW 2012, 177; 180; Jahn StraFo 2014, 177, 193).
  • Entsprechendes gilt, wenn der Beschuldigte zwar angehört worden ist und geäußert hat, er kenne keinen Verteidiger, es aber fraglich ist, ob er sich bei Abgabe seiner Erklärung, deren Bedeutung, Bindungswirkung und Tragweite tatsächlich bewusst war (OLG Koblenz StV 2011, 349 = StRR 2011, 227 m. Anm. Burhoff, das auf die Belastungen verweist, unter denen der gerade festgenommene Beschuldigte, steht; ähnlich OLG Düsseldorf NJW 2011, 1618 = StraFo 2011, 275 = StRR 2011, 265 m. Anm. Jahn). Nach Auffassung des LG Dresden verbleibt es aber, wenn sich später ein anderer Verteidiger meldet, dann bei der Auswahl durch den Ermittlungsrichter, wenn der Beschuldigte diesem die Auswahl des Pflichtverteidigers überlassen hat, die Meldung des anderen Verteidigers den Ermittlungsrichter nicht mehr vor Bestellung des Pflichtverteidigers erreicht hat (LG Dresden StRR 2013, 202 [Ls.; m.E. zweifelhaft]).
  • Aufgehoben wird die Pflichtverteidigerbestellung auch, wenn der bestellte Pflichtverteidiger nicht alsbald mit dem Beschuldigten Kontakt aufnimmt. Das folgt schon aus dem Sinn und Zweck der Regelung des § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, die eine mögl...

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