Rz. 220

Das ungarische Recht kennt ein umfassendes, justizförmiges Nachlassverfahren. Obwohl das ungarische materielle Recht den Grundsatz der ipso iure-Erbfolge verfolgt, ist die Durchführung eines Nachlassverfahrens i.d.R. notwendig, damit der Erbe oder sonstige Berechtigte (z.B. Vermächtnisnehmer) seine Rechtsstellung bzw. den Erwerb von Todes wegen vor den Behörden und gegenüber Dritten amtlich nachweisen kann. Dieses Verfahren gewährt den Betroffenen einen einheitlichen rechtlichen Rahmen,[173] den Nachlass unter Mitwirkung des Notars einvernehmlich abzuwickeln. Zweck des Nachlassverfahrens ist es, den ipso iure bereits erfolgen Rechtserwerb (mit deklaratorischer Wirkung) amtlich nachzuweisen. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Betroffenen bestimmte Rechtshandlungen mit konstitutiver Wirkung im Rahmen dieses Verfahrens vornehmen (z.B. Durchführung der Nachlassteilung oder Befriedigung von Nachlassverbindlichkeiten mit einem Vergleich; siehe Rdn 293 f.).

 

Rz. 221

Beim Nachlassverfahren handelt es sich um ein Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dem Verfahren liegen folgende Rechtsquellen zugrunde:

Primäre Rechtsquelle ist das Hetv. (Gesetz Nr. XXXVIII vom Jahre 2010 über das Nachlassverfahren).
In allen verfahrensrechtlichen Fragen, für die im Hetv. keine besondere Regelung vorgesehen ist, ist die Zivilprozessordnung[174] subsidiär anzuwenden.
 

Rz. 222

Das Nachlassverfahren gehört seit 1886 in die sachliche Zuständigkeit der Notare. Eine ungarische Besonderheit ist jedoch, dass der Notar – abweichend von einigen mitteleuropäischen Rechtsordnungen[175] – nicht als gerichtlich bestellter Gerichtskommissar tätig ist. Der Notar selbst übt im Nachlassverfahren die Befugnisse eines Nachlassgerichts aus (ex lege-Zuständigkeit). Gemäß § 2 Abs. (2) Hetv. entfalten die Verfahrenshandlungen des Notars die gleichen Rechtswirkungen wie ein Gericht erster Instanz. Die ungarischen Notare, soweit sie ein Nachlassverfahren durchführen, werden als "Gericht" i.S.v. Art. 3 Abs. (2) EuErbVO betrachtet.

 

Rz. 223

Dass der ungarische Notar im Nachlassverfahren in seiner Eigenschaft als Gericht tätig ist, wird auch durch die folgenden Merkmale des Verfahrens hervorgehoben:

Der Notar erlässt im Nachlassverfahren sowohl in der Sache als auch in verfahrensrechtlichen Fragen eine formelle Entscheidung (Beschluss[176]), ebenso wie ein Gericht.
Das ordentliche Rechtsmittel gegen den notariellen Beschluss ist die Berufung; im Berufungsverfahren wird eine notarielle Entscheidung so behandelt, als wäre sie von einem Kreisgericht erlassen worden.[177]
Der Notar ist im Nachlassverfahren an feste Zuständigkeitsvorschriften gebunden. Er hat im Verfahren von Amts wegen zu prüfen, ob seine internationale bzw. örtliche (siehe Rdn 256 ff.) Zuständigkeit feststeht.
 

Rz. 224

Der Notar ist aber nicht befugt, Streitigkeiten zwischen den Erben bzw. zwischen den Erben und sonstigen Betroffenen mit endgültiger Wirkung zu entscheiden.[178] Dies würde über den Rahmen des Nachlassverfahrens hinausgehen und ist nur im Wege der streitigen Gerichtsbarkeit (z.B. in einem Erbschaftsprozess) möglich.

[173] Das ungarische Nachlassverfahrensrecht verwendet den Begriff "Partei" nicht; im Hetv. werden die einzelnen Verfahrensbeteiligten mit unterschiedlichen materiellrechtlichen Kategorien bezeichnet. Der Begriff "als Erbe Betroffene" (ungarisch: "örökösként érdekelt") erfasst denjenigen, der im Verfahren als Erbe (gesetzlicher, testamentarischer oder vertraglicher Erbe) auftritt, den Vindikationslegatar sowie den Begünstigten einer Schenkung von Todes wegen. Eine breitere Kategorie ist der "in der Erbfolge Beteiligte" (ungarisch: "öröklésben érdekelt"); dieser Begriff erfasst neben den "als Erben Betroffenen" noch diejenigen, die im Nachlassverfahren einen schuldrechtlichen Anspruch geltend machen (Nachlassgläubiger und Pflichtteilsberechtigter), ferner den Testamentsvollstrecker und den Nachlassverwalter.
[174] Gesetz Nr. CXXX aus dem Jahre 2016 über die Zivilprozessordnung. Anzumerken ist, dass es in Ungarn – im Unterschied zu Deutschland und Österreich – keine einheitliche Verfahrensordnung für die außerstreitigen Verfahren gibt; die einzelnen Arten der außerstreitigen Verfahren sind in Sondergesetzen geregelt.
[175] Z.B. Österreich, Tschechien, Slowakei, Kroatien.
[176] Ungarisch: "végzés".
[177] Das Berufungsgericht ist demgemäß im Falle der Berufung gegen eine notarielle Entscheidung das Landgericht (ungarisch: "törvényszék"), ebenso wie bei einer Berufung gegen die Entscheidung des Kreisgerichts.
[178] In diesem Fall erlässt der Notar i.d.R. einen Naechlassübergabebeschluss mit vorläufiger Wirkung (siehe Rdn 290).

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