Rz. 4

Der gegenwärtige Stand des türkischen Rechts (Juni 2021) ist von intensiven Reformbewegungen geprägt, die gleichzeitig den für die Aufnahme der Türkei in die EU geforderten Anpassungen des Normenbestandes an europäische Standards Rechnung zu tragen suchen. Auch die großen Kodifikationen sind davon betroffen.

 

Rz. 5

Nachdem bereits Mitte der neunziger Jahre viele wirtschaftsrechtlichen Bestimmungen reformiert wurden – so etwa im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes und des Wettbewerbsrechts mit der Schaffung eines Patentamtes (Patent Enstitüsü) und eines Kartellamtes (Rekabet Kurumu, mit dem Wettbewerbsrat Rekabet Kurulu als Entscheidungsgremium) sowie der schrittweisen Verbesserung des Zugangs zur internationalen Schiedsgerichtsbarkeit –, trat mit dem neuen ZGB (Türk Medeni Kanunu) am 1.1.2002[3] die erste größere Neukodifikation in Kraft, wobei die Grundstruktur des alten ZGB erhalten blieb. Es sind also auch fernerhin das Personenrecht, das Familien- und Erbrecht sowie das Sachenrecht im ZGB geregelt, das sich nach wie vor stark an das Schweizer Vorbild anlehnt.

 

Rz. 6

Im Jahre 2005 wurde ein völlig neues Strafgesetzbuch[4] verabschiedet, in dem sowohl Elemente der bisher aus Italien beeinflussten alten Kodifikation als auch Elemente aus anderen Rechtsräumen, insbesondere Deutschland, zu erkennen sind. Hervorzuheben ist insofern die nunmehr endgültige und vollständige Abschaffung der Todesstrafe. Das Strafgesetzbuch wurde seither einige Male geändert und ergänzt, insbesondere auch im Hinblick auf "Compliance" im Wirtschaftsrecht. Auch die Strafprozessordnung wurde im gleichen Zuge neu gefasst,[5] hier blieb der Einfluss aus Deutschland markant erhalten.

 

Rz. 7

Bis zur Reform des Schuldrechts war das Schuldrecht in einem Obligationengesetzbuch (OGB, Borçlar Kanunu)[6] kodifiziert, das eine praktisch wörtliche Übersetzung des schweizerischen Obligationenrechts darstellte, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts als "Fünftes Buch des ZGB" als separates Gesetz mit eigener Artikel-Zählung verabschiedet und so auch in der Türkei rezipiert worden war. Am 4.2.2011 wurde im Amtsblatt Nr. 27836 das neue OGB (Gesetz Nr. 6098 vom 11.1.2011) bekannt gemacht. Wie das vorherige Gesetz zeichnet es sich durch eine – im Vergleich zum BGB – größere Übersichtlichkeit aus. In den wesentlichen Grundsätzen des allgemeinen Vertragsrechts und bei den – nicht abschließend geregelten – Vertragstypen lassen sich gemeinsame Wurzeln des deutschen und schweizerischen Schuldrechts erkennen. Dennoch dürfen gemeinsame Begrifflichkeiten nicht dazu führen, das deutsche Rechtsverständnis einfach auf das schweizerische oder türkische Recht zu übertragen. Für das Gesellschaftsrecht relevant ist das OGB insbesondere durch die Regeln zum allgemeinen Vertragsrecht (Stellvertretung, Abschluss und Beendigung von Verträgen, Willensmängel etc.) sowie dadurch, dass hier auch die Regeln zur der "BGB-Gesellschaft" entsprechenden "Einfachen Gesellschaft" enthalten sind. Hervorzuheben ist u.a. die Kodifizierung des AGB-Rechts im neuen OGB (Art. 20 ff. OGB). Verein und Stiftung sind sowohl im ZGB als auch in eigenen Sondergesetzen geregelt.

 

Rz. 8

Die ZPO von 2011[7] folgt in grosso modo der Schweizer Reform, wonach die kantonalen Zivilprozessgesetze in ein gemeinsames Bundesgesetz überführt worden waren. Die Änderungen sollten unter anderem der Beschleunigung der Verfahren dienen, was sich allerdings in der Praxis nicht so recht auswirken will. Allein die endlich im Jahre 2016 erfolgte Umsetzung der Einführung der Berufungsgerichte macht sich im Verfahrenstempo bemerkbar, auch wenn im Ergebnis türkische Gerichtsverfahren immer noch zu lange dauern. Im Zwangsvollstreckungs- und Konkursrecht hat man sich bisher mit Gesetzesänderungen an dem entsprechenden Gesetz, das 1932 ebenfalls aus der Schweiz übernommen wurde, begnügt.[8] Es regelt in einer einzigen Kodifikation sowohl das Zwangsvollstreckungsrecht als auch das Insolvenzrecht. Ersteres weist wieder Ähnlichkeiten mit dem deutschen Zwangsvollstreckungsrecht auf, Letzteres ist in letzter Zeit den Tendenzen gefolgt, Konkurs bzw. Insolvenz nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Liquidation, sondern auch der Sanierung zu sehen. Die meisten Änderungen betreffen das Insolvenzrecht, das man als Spiegel der stark wechselnden wirtschaftlichen Situation in der Türkei sehen kann.[9]

 

Rz. 9

Im Übrigen besteht das Zivilrecht im weiteren Sinne aus zahlreichen weiteren Gesetzen, wie etwa das die individuellen Arbeitsverhältnisse regelnde Arbeitsgesetz (İş Kanunu)[10] oder das Gesetz über den Verbraucherschutz (Tüketicilerin Korunması Hakkında Kanun).[11] Für das Immobilienrecht besonders wichtig ist – neben den sachenrechtlichen Bestimmungen des ZGB – das Grundbuchgesetz (Tapu Kanunu),[12] das in seinen Art. 35 f. den Grundstückserwerb durch Ausländer und durch türkische Gesellschaften mit ausländischer Kapitalbeteiligung regelt.

 

Rz. 10

Im Recht der ausländischen Investitionen sind Bestimmungen, die zu einer Diskrim...

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