Rz. 42

§ 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG verlangt für den Auflösungsantrag des Arbeitnehmers, dass diesem die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zugemutet werden kann. Der Begriff der Unzumutbarkeit ist dabei angesichts des unterschiedlichen Normzwecks mit dem Begriff der Unzumutbarkeit in § 626 BGB nicht identisch. Bei § 626 BGB wird auf den zeitlich begrenzten Zeitraum bis zum Ablauf der Kündigungsfrist abgestellt, bei § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG ist eine langfristige Prognose auf die gesamte zukünftige Dauer des Arbeitsverhältnisses anzustellen.[1]

 
Hinweis

Nach diesem Normverständnis machen Gründe, die zur fristlosen Kündigung berechtigen, stets auch die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar. Andererseits können auch Tatsachen die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nach § 9 Abs. 1 Satz 1 KSchG unzumutbar machen, die für eine fristlose Kündigung nicht ausreichen.

 

Rz. 43

Bei Vorliegen eines wichtigen Grundes kann der Arbeitnehmer daher unter Wahrung der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB auch fristlos kündigen und Schadensersatz nach § 628 Abs. 2 BGB verlangen.

 

Rz. 44

Die Gründe können sich aus einem Verhalten des Arbeitgebers vor oder nach der Kündigung ergeben und mit der Kündigung einhergehen. Die Auflösungsgründe müssen jedoch in einem inneren Zusammenhang mit der Kündigung stehen.[2] Dieses Erfordernis hat das BAG in der lesenswerten Entscheidung vom 11.7.2013[3] unter Hinweis auf das vorrangige Ziel des Bestandsschutzes ausdrücklich hervorgehoben und betont, dass ein Streit über den Inhalt von Vertragspflichten nicht zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses führen kann, wenn dieser Streit nichts mit der streitgegenständlichen Kündigung zu tun hat.

 
Praxis-Beispiel

Bei einer sozial nicht gerechtfertigten betriebsbedingten Kündigung macht der Arbeitnehmer zur Begründung seines Auflösungsantrags geltend, 3 Monate vor Ausspruch der Kündigung sei er im Rahmen einer Arbeitsunfähigkeit im Auftrag des Arbeitgebers von einem Detektiv pausenlos überwacht worden.

Dieses Verhalten des Arbeitgebers steht nicht in einem inneren Zusammenhang mit der Kündigung oder mit dem Verhalten des Arbeitgebers während des Kündigungsrechtsstreits.

 

Rz. 45

Haben die vom Arbeitnehmer vorgebrachten Unzumutbarkeitsgründe mit der Kündigung oder dem Kündigungsschutzprozess nichts zu tun, verbleibt dem Arbeitnehmer nur die Möglichkeit der eigenen Kündigung.[4] § 9 führt aber nicht zu einem eigenständigen Kündigungsgrund mit Abfindungsanspruch. Dem Arbeitnehmer verbleibt die Möglichkeit der fristlosen Kündigung und des Schadensersatzes nach § 628 Abs. 2 BGB bei schuldhaftem vertragswidrigem Verhalten des Arbeitgebers.[5] Zum Schaden gehört bei Geltung des KSchG dann neben dem Vergütungsverlust bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist auch eine Abfindung als Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes gem. den §§ 13 Abs. 1 Satz 3, 10 KSchG.[6]

 
Hinweis

Die Unwirksamkeit einer Kündigung allein macht dem Arbeitnehmer die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht unzumutbar. Die Unzumutbarkeit muss sich aus weiteren Gründen ergeben. Der Arbeitnehmer hat daher nicht die freie Wahl, ob er bei festgestellter Unwirksamkeit der Kündigung das Arbeitsverhältnis fortsetzen oder gegen eine Abfindung ausscheiden will. Der Arbeitgeber kann sich zur Begründung des Auflösungsantrags auch auf Gründe stützen, auf die er zuvor die Kündigung gestützt hat. Hierzu muss jedoch detailliert vorgetragen werden, weshalb die unwirksamen Kündigungsgründe der weiteren Zusammenarbeit entgegenstehen sollen.[7]

 

Rz. 46

Die Beurteilung der Unzumutbarkeit hängt regelmäßig von den darzulegenden Umständen des Einzelfalls ab.

 

Rz. 47

Typische Auflösungsgründe sind:

  • Die Kündigung wurde leichtfertig mit unzutreffenden und ehrverletzenden oder diskriminierenden Behauptungen begründet. Bei diesen Gründen hat der Arbeitnehmer häufig das Problem der Beweisbarkeit.
  • Der Arbeitnehmer wurde völlig ungerechtfertigt suspendiert oder ein Hausverbot verhängt.
  • Es besteht die durch Tatsachen begründete Besorgnis, im Falle der Rückkehr werde der Arbeitnehmer benachteiligt oder unkorrekt behandelt, sei es durch den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Kollegen. Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Kündigungsschutzverfahren über eine offensichtlich sozialwidrige Kündigung seitens des Arbeitgebers mit einer nicht nachvollziehbaren Schärfe geführt wird. Äußert ein Arbeitgeber im Rahmen eines Kündigungsschutzprozesses, der Arbeitnehmer habe bei einer Rückkehr an den Arbeitsplatz ohnehin keine Chance mehr, kann dies unter Berücksichtigung der weiteren Umstände des Einzelfalls als Auflösungsgrund genügen.[8]

     
    Hinweis

    Rügt ein Arbeitnehmer bei einer betriebsbedingten Kündigung die fehlerhafte Sozialauswahl, bringt er damit zum Ausdruck, dass vor ihm andere Kollegen hätten gekündigt werden müssen. Die damit verbundene Befürchtung, bei einer Rückkehr werde er unkorrekt behandelt, genügt nicht, wenn es hierfür nicht konkrete Anhaltspunkte, z. B. Äußerungen von Kollegen oder Vorgesetzten gibt.

  • Die durch Tatsache...

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