Rz. 337

Voraussetzung einer verhaltensbedingten Kündigung ist die Feststellung eines objektiven rechtswidrigen und schuldhaften Verstoßes des Arbeitnehmers gegen Pflichten, die sich aus dem Arbeitsvertrag ergeben. Nur objektive, durch Dritte nachvollziehbare Vorfälle begründen eine Kündigung; die subjektive Einschätzung des Arbeitgebers ist nicht ausschlaggebend. Nicht jeder durch das Verhalten des Arbeitnehmers begründete Vertragsverstoß kann eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertigen; die Pflichtverletzung muss vielmehr ein bestimmtes Gewicht haben und eine Wiederholungsgefahr in sich bergen. Schließlich muss nach einer umfassenden Interessenabwägung das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses dem Interesse des Arbeitnehmers an seinem Bestand überwiegen.

 

Rz. 338

Die Prüfung, ob eine Situation geeignet ist, eine verhaltensbedingte Kündigung zu rechtfertigen, vollzieht sich damit in einzelnen Prüfungsschritten. Dabei werden von Rechtsprechung und Literatur teilweise 2-, 3- und 4-stufige Prüfungsmodelle vorgeschlagen.[1] Inhaltlich ergeben sich im Wesentlichen keine Unterschiede.

 

Rz. 339

Im Folgenden wird zum Zweck der besseren Übersicht folgende Prüfungsreihenfolge vorgenommen:

  1. Zunächst ist zu prüfen, ob ein objektiver Grund vorliegt (2.1), das rechtswidrige und schuldhafte pflichtwidrige Verhalten mithin dem Grunde nach – ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls – als Kündigungsgrund geeignet ist.
  2. Sodann muss im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (2.2) festgestellt werden, ob kein milderes Mittel als der Ausspruch einer Kündigung – wie eine anderweitige Weiterbeschäftigung oder der Ausspruch einer Abmahnung – das Risiko einer Wiederholung vermindern kann.
  3. Schließlich ist abschließend im Rahmen einer Interessenabwägung (2.3) zu prüfen, ob das dem Arbeitnehmer vorgeworfene Verhalten im konkreten Einzelfall auch einen ruhig und verständig urteilenden Arbeitgeber zu einer Kündigung veranlasst hätte.
[1] 2-Stufenlehre des BAG, z. B. Urteil v. 7.12.1988, 7 AZR 122/88, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 26; 3-stufiger Aufbau, z. B. KR/Rachor, 12. Aufl. 2019, § 1 KSchG, Rz. 437; 4-stufiger Aufbau, z. B. HaKo-KSchG/Zimmermann, 6. Aufl. 2018, § 1 KSchG, Teil D, Rz. 206.

2.2.1 Objektiver Grund

 

Rz. 340

Die zunächst zu prüfende Voraussetzung einer verhaltensbedingten Kündigung ist die Feststellung eines objektiven rechtswidrigen und schuldhaften Verstoßes gegen Pflichten des Arbeitnehmers, die sich aus dem Arbeitsvertrag ergeben.

2.2.1.1 Pflichtwidriges Verhalten

2.2.1.1.1 Hauptleistungsbereich

 

Rz. 341

Das Recht des Arbeitnehmers, etwas zu tun oder zu unterlassen, findet seine Grenze in seinen arbeitsvertraglichen Beziehungen. Die Arbeitspflicht stellt die Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers aus dem Arbeitsvertrag dar, die mit der Vergütungspflicht als arbeitgeberseitiger Hauptleistungspflicht korrespondiert (§ 611a Abs. 1 Satz 1 BGB). Die vom Arbeitnehmer persönlich zu erbringende Arbeitspflicht beruht auf dem Arbeitsvertrag. Sie kann jedoch durch Gesetz oder kollektivrechtliche Regelungen (Tarifvertrag, Betriebsvereinbarung) näher bestimmt werden.

 

Rz. 342

Ist die Arbeitsleistung im Vertrag nicht näher beschrieben, sondern nur schlagwortartig festgelegt (z. B. Tätigkeit als "Kaufmännischer Angestellter"), so richtet sich der Inhalt des Leistungsversprechens zum einen nach dem vom Arbeitgeber durch Ausübung seines Direktionsrechts festzulegenden Arbeitsinhalt. Aufgrund seines Weisungsrechts kann der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer einseitig bestimmte Arbeiten unter Beachtung billigen Ermessens zuweisen. Der Arbeitgeber kann gem. § 106 GewO insbesondere Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch den Arbeitsvertrag, Bestimmungen einer Betriebsvereinbarung, eines anwendbaren Tarifvertrages oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind (z. B. gesetzliche Beschäftigungsverbote wie in § 11 MuSchG oder Arbeitszeitgestaltungen in Betriebsvereinbarungen, die gem. § 77 Abs. 4 BetrVG unmittelbar und zwingend gelten). Bei der Ausübung des Ermessens hat der Arbeitgeber auch auf Behinderungen des Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen, § 106 Satz 3 GewO. Gegenstand des dem Arbeitgeber zukommenden Direktionsrechts sind auch solche Verhaltenspflichten, die darauf zielen, den Austausch der Hauptleistungen erst sinnvoll zu ermöglichen (BAG, Urteil v. 19.1.2016, 2 AZR 449/15[1]: für sog. Vorbereitungshandlungen).

 

Rz. 343

In einigen Fällen ist der Arbeitnehmer gesetzlich von seiner Arbeitspflicht befreit.

§ 616 BGB bestimmt die Folgen bei kurzfristiger unverschuldeter Verhinderung an der Arbeitsleistung aus in der Person des Arbeitnehmers liegenden, also subjektiven, Gründen, z. B. bei außergewöhnlichen Familienereignissen, zwingenden Arztbesuchen, die während der Arbeitszeit notwendig werden, der Erfüllung öffentlicher Pflichten oder ehrenamtlicher Tätigkeiten oder bei behördlichen Tätigkeitsverboten. Weitere Fälle der Entbindung von der Arbeitspflicht sind z. B. genehmigter Urlaub, eine die A...

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