Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Entschädigungsklage. Feststellung der unangemessenen Dauer. Erhebung der Verzögerungsrüge. Klageerhebung vor Ablauf von 6 Monaten. Unzulässigkeit der Klage. Heilung des Verfahrensmangels durch Zuwarten. sozialgerichtliches Verfahren. Bemessung der unangemessenen Dauer. Zeiten des Vorverfahrens. statistische Durchschnittsdauer vergleichbarer Gerichtsverfahren. unverzügliche Verzögerungsrüge bei Altfällen. unverschuldeter Rechtsirrtum. sorgfältige Prozessführung. Beauftragung eines Anwalts

 

Orientierungssatz

1. Die Klage auf Entschädigung wegen überlanger Dauer des Gerichtsverfahrens ist bereits vor Abschluss des Ausgangsverfahrens zulässig.

2. Wird die Entschädigungsklage vor Ablauf von sechs Monaten nach Erhebung der Verzögerungsrüge erhoben, ist die Klage zunächst unzulässig. Eine Heilung dieses Mangels ist aber durch Zuwarten bis zum Verstreichen der Sechsmonatsfrist möglich.

3. Zeiten des Vorverfahrens sind bei der Bemessung der unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens nach § 198 GVG nicht zu berücksichtigen (so auch LSG Berlin-Potsdam vom 13.9.2012 - L 38 SF 73/12 EK).

4. Das LSG schließt sich der Rechtsprechung des BSG (vgl BSG vom 21.2.2013 - B 10 ÜG 1/12 KL = SozR 4-1720 § 198 Nr 1) insoweit an, als dieses es für hilfreich hält, statistische Zahlen zur Beurteilung der Angemessenheit der Dauer von Verfahren heranzuziehen. Bezogen auf das Verfahren vor dem SG oder LSG kann aber nur eine bundesweite Statistik maßgebend sein (hier nicht vorliegend).

5. Der Entschädigungskläger kann sich als juristischer Laie im Hinblick auf das Unterlassen der unverzüglichen Erhebung einer Verzögerungsrüge nach Art 23 S 2 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (juris: ÜberlVfRSchG) nicht auf einen unverschuldeten Rechtsirrtum berufen, wenn er besonderen Anlass hatte, sich zur sorgfältigen Prozessführung professioneller (Beratungs-)Hilfe - etwa eines Rechtsanwalts - zu bedienen.

6. Ist das Ausgangsverfahren bei Inkrafttreten des Art 23 ÜberlVfRSchG noch nicht abgeschlossen gewesen, kann das Sozialgericht trotz Fehlens einer Verzögerungsrüge nach § 198 Abs 4 S 3 Halbs 2 GVG die Feststellung aussprechen, dass eine unangemessene Verfahrensdauer vorliegt.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 29.04.2014; Aktenzeichen B 10 ÜG 5/13 R)

 

Tenor

Es wird festgestellt, dass das Verfahren S 2 KA 5544/08 vor dem Sozialgericht Gotha unangemessen lang gedauert hat.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Hälfte der Kosten des Verfahrens, der Beklagte ebenfalls. Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 5.600 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt Entschädigung wegen unangemessener Verfahrensdauer für das Verfahren S 2 KA 5544/08 vor dem Sozialgericht Gotha (SG) in Höhe von 5.600 Euro.

Die Klägerin betreibt eine kassenärztlich zugelassene allgemeinärztliche Praxis in B. Mit ihrer am 25. November 2008 beim Sozialgericht Gotha (SG) eingegangenen Klage gegen die Kassenärztliche Vereinigung Thüringen (KVT) im Ausgangsverfahren S 2 KA 5544/08 wendet sich die Klägerin gegen die Festsetzung ihres Honorars für das IV. Quartal 2005 und das I. Quartal 2006. Dazu hat sie einen vorläufigen Streitwert von 750 Euro angegeben. Zugleich hat sie auf parallele, laufende Nichtzulassungsbeschwerden beim BSG mit den Aktenzeichen B 6 KA 30/08 B sowie B 6 KA 31/08 B hingewiesen.

Nach Eingangsverfügung und Streitwertbeschluss (beide am 2. Dezember 2008) gingen die Behördenakte am 5. Januar 2009 und die Klageerwiderung am 1. April 2009 ein. Mit Schreiben vom 7. und 17. April 2009 wurde Letztere an die Klägerin versandt und diese um Mitteilung vom Ausgang der in Bezug genommenen Nichtzulassungsbeschwerden gebeten. Ohne entsprechende Mitteilung ging unter dem 12. Oktober 2009 ein Befangenheitsantrag (Schreiben vom 11. Oktober 2009) gegen den Kammervorsitzenden ein. Dieser übersandte die Akten zusammen mit seiner dienstlichen Äußerung am 22. Oktober 2009 an das Thüringer Landessozialgericht (LSG), welches nach Übersendung eines Hinweisschreibens (26. November 2009) und entsprechender Stellungnahme der Klägerin (12. Dezember 2009) den Antrag mit Beschluss vom 7. Januar 2010, zugestellt am 14. Januar 2010, ablehnte. Unter dem 9. Februar 2010 kam es zur Rücksendung der Akten.

Das SG verfügte zunächst am 15. Februar 2010 eine Wiedervorlage zum 1. Juni und forderte ohne weitere Zwischenverfügung am 18. August 2010 die KVT zur Mitteilung der Behandlungsfallzahlen der Klägerin auf. Es folgten diesbezüglich mehrfach Nachforderungen (Schreiben vom 7. September 2010 und 29. September 2010) und nach Eingang der letzten Antwort am 13. Oktober 2010 deren Verteilung an die Klägerin zur Kenntnisnahme. Mit Schreiben vom 6. November 2010 nahm die Klägerin zum vorliegenden Ausgangsverfahren sowie mehreren weiteren Verfahren in einem Schriftsatz Stellung, nach dessen Verteilung der Kammervorsitzende die Sache am 15. November 2010...

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