Entscheidungsstichwort (Thema)

"Verbrauch" vertraglicher Verfehlungen durch eine Abmahnung. Umfassende Interessenabwägung vor Ausspruch einer fristlosen Kündigung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Hat der Arbeitgeber vertragliche Verfehlungen des Arbeitnehmers durch eine Abmahnung gerügt, kann er diese Verfehlungen nicht mehr als Grund für eine fristlose oder ordentliche Kündigung heranziehen.

2. In einer Gesamtwürdigung ist das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen. Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

 

Normenkette

BGB § 626 Abs. 1, § 628 Abs. 2; KSchG § 4

 

Verfahrensgang

ArbG Erfurt (Entscheidung vom 11.06.2021; Aktenzeichen 7 Ca 1886/20)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Erfurt vom 11.06.2021 - 7 Ca 1886/20 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Feststellung in Ziffer 1 zum Fortbestand des Arbeitsverhältnisses klarstellend lauten muss "sondern jedenfalls bis zum 30.04.2021 fortbestanden hat".

2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Beklagte.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz um die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen fristlosen, hilfsweise außerordentlichen fristgerechten sowie hilfsweise ordentlichen Kündigung vom 27.10.2020 sowie über die Höhe einer tarifvertraglichen Sonderzahlung für das Jahr 2020.

Die am ...1969 geborene Klägerin war nach einem Betriebsübergang im Jahre 2017 bei der Beklagten bzw. ihrem Rechtsvorgänger seit dem 05.10.1998 in der "A...-Apotheke" in B... beschäftigt. Die Klägerin ist ausgebildete pharmazeutisch-technische Assistentin. Die Beklagte beschäftigt in ihrem Betrieb regelmäßig mehr als zehn Arbeitnehmer.

Grundlage des Arbeitsverhältnisses war der Arbeitsvertrag vom 23.09.1998 nebst Zusatzvereinbarung vom 28.12.2009 (Bl. 11-14 d.A.). In Ziffer 7 des Arbeitsvertrages wird auf den Bundesrahmenvertrag für Apothekenmitarbeiter in seiner jeweils gültigen Fassung Bezug genommen. In § 18 des Bundesrahmentarifvertrages für Apothekenmitarbeiter in der Fassung ab 01.01.2020 (im Folgenden "BRTV", Bl. 97 ff. d.A.) ist in § 18 eine Sonderzahlung in Höhe von 100 % des tariflichen Monatsverdiensts bei Bestehen des Arbeitsverhältnisses über zwölf Monate im Jahr der Auszahlung geregelt. Nach § 18 Nr. 3 BRTV besteht der Anspruch bei einer geringeren Betriebszugehörigkeit in Höhe von 1/12 des vollen Betrages für jeden vollendeten Beschäftigungsmonat. Die monatliche Brutto vergütung der Klägerin betrug im Jahr 2020 2.604,90 €. Im Juli 2020 zahlte die Beklagte an die Klägerin die hälftige Sonderzahlung in Höhe von 1.302,45 €.

Im Betrieb der Beklagten wurde am 20.10.2020 ein neues Warenwirtschaftssystem eingeführt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Mitarbeiterkonten (Accounts) nicht mit einem persönlichen Passwort geschützt. Es konnten gleichzeitig mehrere Mitarbeiter auf einem einzigen Konto arbeiten. Jeder Mitarbeiter konnte sich im Kassensystem der Beklagten mit jedem beliebigen Konto anmelden. Erst nach dem 20.10.2020 war es möglich, das eigene Mitarbeiterkonto mit einem persönlichen Passwort zu schützen.

Den Mitarbeitern der Beklagten war es gestattet, über ihr Mitarbeiterkonto frei verkäufliche sowie apothekenpflichtige Waren rabattiert, d.h. zum Einkaufspreis zuzüglich Umsatzsteuer zu erwerben. Im Warenwirtschaftssystem waren für unterschiedliche Verkaufsfälle die Verkaufsartenreiter "Normalverkauf, Rezeptverkauf, Privatrezept und grünes Rezept" hinterlegt, wobei bei den Verkaufsarten "Normalverkauf" und "grünes Rezept" gleichzeitig die genannten Mitarbeiterrabatte im System hinterlegt waren. Der Verkaufsartenreiter "Normalverkauf" steht für rezeptfreie Artikel, "Rezeptverkauf" für einen Verkauf auf Vorlage eines Rezepts der gesetzlichen Krankenversicherung, "Privatrezept" für Verkäufe bei Vorlage eines Privatrezepts, "grünes Rezept" für Verkäufe bei Vorlage eines grünen Rezepts. Welche Medikamente von Ärzten auf einem grünen Rezept verordnet werden, ist zwischen den Parteien streitig.

Mit Schreiben vom 28.09.2020 (Bl. 33 d.A.) erteilte die Beklagte der Klägerin eine Abmahnung mit der Begründung, die Klägerin habe sich in einem Personalgespräch am 02.06.2020 gegenüber der Beklagten in Anwesenheit der Apothekenleiterin C... auf nachweislich unwahre Behauptungen berufen. Mit Schreiben vom 28.09.2020 (Bl. 34 d.A.) sprach die Beklagte gegenüber der Klägerin eine weitere Abmahnung aus. Gegenstand dieser Abmahnung waren angebliche Personaleinkäufe rezeptpflichtiger Arzneimittel zu Mitarbeiterkonditionen im Zeitraum Juli 2019 bis Juli 2020. Ausweislich der ...

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