Das Wichtigste in Kürze:

1. Das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 29.7.2009, vor allem § 257c StPO, ist derzeit noch verfassungskonform.
2. Für den Gesetzgeber hat sich eine Beobachtungspflicht ergeben.
3. Weitere verfassungsgerichtliche Beanstandungen sind zu prognostizieren, denn das Gesetz beinhaltet einen unlösbaren Selbstwiderspruch.
 

Rdn 1095

 

Literaturhinweise:

Altenhain/Dietmeier/May, Die Praxis der Absprachen im Strafverfahren, 2013

Fezer, Vom (noch) verfassungsgemäßen Gesetz über den defizitären Vollzug zum verfassungswidrigen Zustand, HRRS 2013, 117 ff.

Putzke/Geipel, Geltung von Prozessgrundrechten und totgeschwiegene Argumente, in: FS Beulke, 2015, S. 937

Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 2012

Schneider, Überblick über die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Verfahrensverständigung im Anschluss an das Urteil des BVerfG vom 19.3.2013, NStZ 2014, 192 u. 252

Volp, Die Quadratur des Kreises – Versuch einer verfassungsgemäßen Verständigung im Strafverfahren in: Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.: Becker/Lange), Band 3, S. 389 ff.

s.a. die Hinw. bei → Verfassungsbeschwerde, Allgemeines, Teil C Rdn 730, und bei Burhoff, EV, Rn 68, und Burhoff, HV, Rn 138.

 

Rdn 1096

1.a) Die Entscheidung des BVerfG v. 19.3.2013 (2 BvR 2628/10 u.a.; NJW 2013, 1058 ff.) hat ein verheerendes Licht auf die strafprozessuale Praxis geworfen, in dem es den "in erheblichem Maße defizitäten Vollzug des Verständigungsgesetzes" expressis verbis angesprochen hat. Es ist nicht falsch, wenn ein wissenschaftlicher Mitarbeiter des BVerfG die Entscheidung so umschreibt, dass einerseits ausführlich und bedeutungsschwer die verfassungsrechtlichen Grundsätze und Maßstäbe betont werden, aber andererseits große Spielräume zugelassen wurden, wenn es um deren Umsetzung geht und mit "teilweise beeindruckender verfassungsrechtlicher Flexibilität" alles unternommen wurde, um die Zulässigkeit von Absprachen nach dem Verständigungsgesetz trotz der Praxisprobleme zu ermöglichen (vgl. Volp, a.a.O., S. 389, 402 f.). Besonders schön, pathetisch, aber weitgehend praxisfremd muss es erscheinen, wenn in der Entscheidung formuliert wird, "dass im Rechtsstaat des Grundgesetzes das Recht die Praxis bestimmt und nicht die Praxis das Recht" (so BVerfG, a.a.O., Rn 119). Das ist freilich nicht richtig, denn gerade im Recht der Verfassungsbeschwerde gibt es einen Unterschied zwischen dem law in books und dem law in action. D.h., die Grundrechte und die Garantie der Verfassungsbeschwerde versprechen mehr als sie halten (vgl. Putzke/Geipel, S. 937). Weder sollte der Bürger getäuscht werden, noch sollte er sich täuschen lassen. Angesichts der notorischen Erfolglosigkeit und Nichtbegründung der weitaus meisten Verfassungsbeschwerden wird der durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 BVerfGG versprochene subjektive Rechtsschutz nicht gewährleistet (so mit Recht Lechner/Zuck, § 90 Rn 24).

 

Rdn 1097

b) Gleichwohl sollen die tragenden Grundsätze der Entscheidung vom 19.3.2013 (BVerfG NJW 2013, 1058 ff.) vorgestellt werden (vgl. zur Umsetzung a. Burhoff, EV, Rn 67 ff.; Burhoff, HV, Rn 137 ff.):

Das Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz, der in der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen, sowie im Rechtsstaatsprinzip verankert ist.
Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung der materiellen Wahrheit.
Die Pflicht zur Amtsaufklärung bleibt unberührt (§ 244 Abs. 2).
Ein Geständnis, das auf einer Verständigung basiert, muss zwingend in der öffentlichen HV durch Beweiserhebung überprüft werden.
Die Verständigung muss sich "im Lichte der öffentlichen HV offenbaren", d.h. die bestehenden Transparenz- und Dokumentationspflichten müssen eingehalten werden.
Informelle Absprachen sind unzulässig.
 

Rdn 1098

2.a) Zur Vorbereitung seiner Entscheidung hatte das BVerfG eine rechtstatsächliche Untersuchung bei Altenhain/Dietmeier/May angefordert, die im Jahre 2012 erfolgt ist.

 

Rdn 1099

 

Wesentliche Ergebnisse:

Der genaue Umfang der Fälle, die per Verständigung gelöst werden, könnte ca. ⅓ betragen (vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 35). 26,7 % der befragten Richter gaben an, ausschließlich informelle Absprachen zu treffen, weitere 58,9 % gaben an, mehr informelle Absprachen als formelle zu treffen. An Amtsgerichten werden mehr informelle Absprachen als formelle durchgeführt und ein Drittel der Amtsrichter gab an, § 257c StPO noch nie angewandt zu haben (vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 36 f.). Seit Inkrafttreten des Verständigungsgesetztes im Jahre 2009 hat sich bei 80 % der befragten Richter keine Änderung ihrer Absprachenpraxis eingestellt (vgl. Altenhain/Dietmeier/May, S. 40).
Besonders bemerkenswert ist, dass aus Sicht der Richter der Opferschutz der wichtigste Grund für eine Absprache ist, sodann aber die unklare Beweislage oder eine drohende langwierige Beweisaufnahme als übergeordneter Grund für die Verständigung folgt. Die Arbeitsüberlastung als Grund für eine Absprache folgt erst nach den beiden zuv...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge