Das Wichtigste in Kürze:

1. Auch gegen Jugendliche kann U-Haft verhängt werden. Sie muss aber "ultima ratio" sein.
2. Bei der Verhängung von U-Haft gegen Jugendliche ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besonders zu beachten. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe.
3. Für den Erlass eines Haftbefehls müssen dieselben Voraussetzungen wie im allgemeinen Strafrecht erfüllt sein. Besonderheiten bestehen beim Haftgrund der Flucht- bzw. Wiederholungsgefahr. Besonderheiten bestehen auch bei U-Haft gegen 14- und 15-Jährige.
4. Die Jugendgerichtshilfe ist zur Haftentscheidungshilfe heranzuziehen.
5. Die Rechtshelfe gegen U-Haft sind im JGG-Verfahren die gleichen wie im allgemeinen Verfahren.
6. Die Anrechnung der U-Haft auf eine Jugendstrafe kann aus erzieherischen Gründen unterbleiben. Von der Vollstreckung eines Jugendarrests kann nach vollzogener U-Haft abgesehen werden.
 

Rdn 948

 

Literaturhinweise:

Bindel-Kögel/Heßler, Vermeidung von Untersuchungshaft bei Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen Jugendhilfe und Justiz, 1999

Bussmann/England, Vermeidung von U-Haft an Jugendlichen und Heranwachsenden, ZJJ 2004, 280

Eberitzsch, Haftentscheidungen im Jugendstrafverfahren, ZJJ 2013, 296

Eisenberg, Zur verfahrensrechtlichen Stellung der Jugendgerichtshilfe, StV 1998, 304

ders., Zur Frage der Aufrechterhaltung eines Tatverdachts bzw. Haftfortdauerbeschluss im Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, StraFo 2010, 421

Eisenberg/Toth, Über Verhängung und Vollzug von Untersuchungshaft bei Jugendlichen und Heranwachsenden, GA 1993, 293

Flöhr, Die Anrechnung der Untersuchungshaft auf Jugendarrest und Jugendstrafe, 1995

Ostendorf, Neuregelung des Untersuchungshaftvollzugsrechts, ZJJ 2009, 341

Rentzel-Rothe, Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a Abs. 1 Nr. 2 StPO im Jugendstrafverfahren, StV 2013, 786

Schäfer, Das Berufungsverfahren in Jugendsachen, NStZ 1998, 330

ders., Die Untersuchungshaftvermeidung in Deutschland DVJJ-J 2002, 313

Schaffstein/Beulke, Jugendstrafrecht. Eine systematische Darstellung. 13. Aufl. 2002

Sommerfeld, Status quo der Untersuchungshaft an Jugendlichen und Heranwachsenden in der Jugendarrestanstalt, ZJJ 2011, 431

Villmow, Junge Tatverdächtige in der Untersuchungshaft, ZJJ 2009, 226

ders., Untersuchungshaft, ZJJ 2009, 367

s.a. die Hinw. bei → JGG-Besonderheiten, Allgemeines, Teil A Rdn 620.

 

Rdn 949

1. Bereits im allgemeinen Strafrecht muss die Verhängung von U-Haft "ultima ratio" sein. Dies gilt im Jugendstrafverfahren umso mehr. Hier sind gesetzliche Einschränkungen vorhanden, die Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sind (s. dazu auch Burhoff, EV, Rn 2340 ff.). Gerade bei Jugendlichen birgt die U-Haft die Gefahr von "irreparablen Entwicklungsschäden" (Albrecht, S. 230) bzw. einer "schockartigen Erschütterung" (Schaffstein/Beulke, S. 248). Zudem wird auf die erhöhte Selbsttötungshäufigkeit bei Jugendlichen und Heranwachsenden gerade zu Beginn der Haftzeit hingewiesen (Eisenberg, § 72 Rn 3). Nichtsdestotrotz spielen gerade bei Jugendlichen apokryphe Haftgründe eine nicht zu unterschätzende Rolle (vgl. Burhoff, EV, Rn 2341). Lediglich weniger als 50 % der Jugendlichen, an denen U-Haft vollzogen wurde, werden anschließend zu einer unbedingten Jugendstrafe verurteilt. Jeweils ca. 26 % zu einer Jugendstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde bzw. zu Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln (Eisenberg, § 72 Rn 5 ff.). U-Haft soll nach Möglichkeit in für junge Gefangene vorgesehenen Einrichtungen vollzogen werden (zum Vollzug in einer Jugendarrestanstalt Sommerfeld ZJJ 2011, 431).

 

Rdn 950

2. Als besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des Art. 20 Abs. 3 GG darf U-Haft gem. § 72 Abs. 1 JGG nur verhängt oder vollstreckt werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorläufige Anordnung über die Erziehung (→ JGG-Besonderheiten, Erziehungsanordnung, vorläufige, Teil A Rdn 781 ff.) oder durch andere Maßnahmen erreicht werden kann. Dabei sind ausdrücklich die besonderen Belastungen des Vollzuges für Jugendliche zu berücksichtigen (vgl. Burhoff, EV, Rn 2342; zu den Voraussetzungen und den Ursachen der geringen quantitativen Bedeutung der U-Haftvermeidung: Villmow ZJJ 2009, 226; Schäfer DVJJ-J 2002, 313). Wird U-Haft verhängt, so sind im Haftbefehl die Gründe anzuführen, aus denen sich ergibt, dass andere Maßnahmen, insbesondere die einstweilige Unterbringung in einem Heim der Jugendhilfe (→ JGG-Besonderheiten, Heimunterbringung, einstweilige, Teil A Rdn 788 ff.), nicht ausreichen und die U-Haft nicht unverhältnismäßig ist (OLG Hamm StRR 2009, 235; dazu Eisenberg StraFo 2010, 421; Burhoff, EV, Rn 2344 ff.; allgemein Burhoff, EV, Rn 3695 ff.).

 

Rdn 951

3. Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls sind wie im allgemeinen Strafrecht dringender Tatverdacht, das Vorliegen eines Haftgrundes und die Verhältnismäßigkeit mit ihren besonderen Ausprägungen.

 

Rdn 952

a) Auch bei der Verhängung von U-Haft bei Jugendlichen dominiert der H...

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