Das Wichtigste in Kürze:

1. Aus der gerichtlichen Fürsorgepflicht folgt zunächst die Einhaltung einer angemessenen Wartezeit.
2. Erscheint der Angeklagte, bevor das Verwerfungsurteil ergangen ist, darf dieses nicht mehr erlassen werden.
 

Rdn 196

 

Literaturhinweise:

s. die Hinw. bei → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Allgemeines, Teil A Rdn 58.

 

Rdn 197

1.a) Aus der gerichtlichen Fürsorgepflicht folgt zunächst die Einhaltung einer angemessenen Wartezeit von (mindestens) 15 Minuten, gerechnet ab der angesetzten Terminsstunde (VerfGH Berlin NJW 2004, 1158; OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 303; OLG Frankfurt/Main NStZ-RR 2012, 258 = DAR 2012, 477; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 251; OLG Jena, Beschl. v. 29.8.2011 – 1 Ss Rs 86/11; vgl. Burhoff, HV, Rn 711 m.w.N.). Hat der Angeklagte das Gericht darauf hingewiesen, dass es zu einer Verspätung kommen wird, kann das Gericht gehalten sein, mit dem Beginn der HV auch längere Zeit zuzuwarten; insbesondere gilt dies – und zwar unabhängig von einem Verschulden, soweit dem Angeklagten nicht grobe Nachlässigkeit oder gar Mutwilligkeit zu Last fällt –, wenn der Angeklagte telefonisch angekündigt hat, dass er erscheinen werde (KG StraFo 2013, 427 = StRR 2013, 283 [Ls.]; OLG Koblenz, Beschl. v. 1.9.2003 – 2 Ss 208/03; OLG Nürnberg NStZ-RR 2010, 286) oder mitgeteilt hat, dass er in einem Verkehrsstau stecke, witterungsbeding schlechte Verkehrsverhältnisse herrschen (OLG Köln StV 2014, 209 [Ls.]) oder die Einlasskontrolle bei Gericht zusätzlich eine Viertelstunde in Anspruch nahm (OLG Hamm NZV 2003, 49).

 

☆ Das nicht rechtzeitige Erscheinen eines Angeklagten ist stets dann genügend entschuldigt, wenn er bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge mit seinem rechtzeitigen Eintreffen rechnen durfte (OLG Hamm VRS 97, 44; s.  Anreise bei →  Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Endgültiges, A-Z , Teil A Rdn  122 ), jedoch ist in Verspätungsfällen der Grund für das nicht rechtzeitige Erscheinen mitzuteilen, damit das Gericht prüfen kann, ob das Ausbleiben (un-)entschuldigt ist (OLG Hamm NStZ-RR 2009, 251).gewöhnlichem Verlauf der Dinge mit seinem rechtzeitigen Eintreffen rechnen durfte (OLG Hamm VRS 97, 44; s. "Anreise" bei → Berufung, Ausbleiben des Angeklagten, Endgültiges, A-Z, Teil A Rdn 122), jedoch ist in Verspätungsfällen der Grund für das nicht rechtzeitige Erscheinen mitzuteilen, damit das Gericht prüfen kann, ob das Ausbleiben (un-)entschuldigt ist (OLG Hamm NStZ-RR 2009, 251).

 

Rdn 198

Weist der nichtvertretungberechtigte Verteidiger oder ein Dritter (z.B. die Ehefrau) das Gericht darauf hin, dass sich der erscheinungswillige Angeklagte verspäten wird, hat das Gericht ebenfalls über die regelmäßig einzuhaltende Wartezeit von 15 Minuten hinaus zuzuwarten (OLG Jena, Beschl. v. 18.9.2012 – 1 Ss 71/12; OLG Köln StraFo 2013, 251).

 

Rdn 199

 

Beispiel Verteidigererklärung (zu Protokoll):

Heute um 8:30 Uhr hat mein Mandant in der Kanzlei angerufen und mitgeteilt, dass sein Pkw nicht angesprungen ist. Bei näherer Überprüfung musste er feststellen, dass Kabel und die Schläuche für die Kühlflüssigkeit durch Verbiss beschädigt sind. Anstelle der geplanten Anreise mit dem Pkw wird der Mandant nunmehr mit der Deutschen Bahn anreisen. Der nächste erreichbare Zug wird fahrplanmäßig am Gerichtsort um … ankommen. Mein Mandant wird deshalb – die Zeit für die Taxifahrt vom Bahnhof zum Gericht eingerechnet – hier um … eintreffen.

Verteidigerantrag:

Ich beantrage, die Hauptverhandlung bis um … zu unterbrechen.

 

Rdn 200

b) Resultiert die Verspätung aus einem Missverständnis, weil dem Angeklagten mehrere oder unübersichtliche Terminsladungen zugegangen waren, nachdem das Gericht etwa wegen der Verhinderung eines Zeugen einen weiteren Terminstag ansetzte, woraus der Angeklagte auf eine Terminsverlegung geschlossen hatte, muss dem Angeklagten eine Frist gesetzt werden, innerhalb der er vor Gericht zu erscheinen hat, bevor die Berufung verworfen wird (OLG Köln StraFo 2004, 143). Ein längeres Zuwarten (wie z.B. 66 Minuten ab Terminsstunde) ist dem Gericht, dem lediglich mitgeteilt wird, die Angeklagte sei aufgrund der "unübersichtlichen Ladung" von einem anderen Terminstag ausgegangen, nicht zuzumuten, wenn bei sofortigem Aufbrechen nach Erkennen des Versehens ein rechtzeitiges Erscheinen noch während der Verhandlungsunterbrechung möglich gewesen wäre (OLG Oldenburg NJW 2009, 176).

 

Rdn 201

c) Auch ein Irrtum des Angeklagten bezüglich des Gerichtsorts (obwohl er zum LG geladen ist, reist er zum AG an) kann eine Verspätung entschuldigen und das Gericht zum Zuwarten bis zu seinem Erscheinen verpflichten (OLG Brandenburg StRR 2011, 345; OLG Hamm StRR 2007, 262 [Ls.]; OLG München VRS 113, 117), was allerdings voraussetzt, dass sich der Angeklagte auf direktem Weg und nicht auf einem Umweg zum zuständigen Gericht begibt (OLG Hamm, Beschl. v. 21.8.2006 – 2 Ws 182/06 u. 2 Ss 338/06). Verschulden liegt indessen vor, wenn der Angeklagte hinsichtlich des Zeitpunkts des Beginns der Berufungshauptverhandlung allein auf die Angaben zur Termin...

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