Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsarzt. Zulassungsentziehung. Verwertung von Feststellungen aus einem rechtskräftig abgeschlossenen Strafbefehlsverfahren. Zulassungsentziehung muss verhältnismäßig sein. Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Zulassungsgremien. nur bei einem besonderen öffentlichen Interesse zulässig

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Verwertung von Feststellungen aus einem rechtskräftig abgeschlossenen Strafbefehlsverfahren für ein Verfahren über die Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Tätigkeit nach § 95 Abs 6 SGB V unterliegt keinen Einschränkungen.

2. Die Entziehung der Zulassung nach § 95 Abs 6 SGB V greift in das Grundrecht der Berufsfreiheit nach Art 12 GG, auch in die Berufswahl des betroffenen Arztes ein. Sie muss daher verhältnismäßig sein. Dies ist nur dann der Fall, wenn sie das einzige Mittel zur Sicherung und zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung ist (vgl LSG Essen vom 30.10.2002 - L 11 KA 94/02). Kriterien sind hierfür insbesondere die Schwere der Pflichtverletzungen, die Länge des Zeitraums, in dem die Pflichtverletzungen stattfanden, der Schadensumfang, die subjektive Vorwerfbarkeit und die Vorgeschichte.

3. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Zulassungsgremien nach § 97 Abs 4 SGB V ist nur bei einem besonderen öffentlichen Interesse zulässig. Bei einer Abwägung der gegenläufigen Interessen rechtfertigt grundsätzlich die Gefährdung der Funktionsfähigkeit der vertragsärztlichen Versorgung auch bei drohender Existenzgefährdung des vom Zulassungsentzug betroffenen Arztes die Anordnung der sofortigen Vollziehung. Es ist aber jeweils auf den Einzelfall abzustellen.

 

Orientierungssatz

Zu Leitsatz 1 vgl BSG vom 27.6.2007 - B 6 KA 20/07 B.

 

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 15.07.2010, betreffend die Entziehung der vertragsärztlichen Zulassung wird bis zum 01.02.2011 angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgewiesen.

II. Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben.

 

Gründe

I.

Gegenstand des zum Sozialgericht München eingelegten "Eilverfahrens" ist der Beschluss des Antragsgegners vom 15. Juli 2010, mit dem unter Ziffer 2. die sofortige Vollziehung der Entscheidung des Zulassungsausschusses Ärzte Niederbayern vom 24.2.2010 angeordnet wurde.

Der Antragsteller ist als Orthopäde mit dem Schwerpunkt "Rheumatologie" im Planungsbereich Landkreis C. seit 1994 zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen.

Gegen den Kläger fand ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren statt, das mit Strafbefehl des Amtsgerichts C. vom 13.8.2008 (rechtskräftig seit 26.1.2009) abgeschlossen wurde. Gegen den Antragsteller wurde eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verhängt, wobei die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Des weiteren wurde eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 46.800,- € verhängt. Vorgeworfen wurde dem Antragsteller

- die Abrechnung von GKV-Leistungen als IGeL-Leistungen im Zeitraum vom 1.10.2006 bis 28.3.2007.

- Die Beschäftigung eines nicht genehmigten Assistenten (Dr. R.) in der Zeit vom 26.10.2004 bis 7.4.2005 und vom 1.10.2006 bis 15.11.2006.

Die Schadenssumme, die von der Staatsanwaltschaft ermittelt wurde, betrug insgesamt 191.621,79 €.

Unter Hinweis auf das durch rechtskräftigen Strafbefehl abgeschlossene Strafverfahren wurde seitens des Zulassungsausschusses die Auffassung vertreten, dass damit das erforderliche Vertrauensverhältnis zwischen dem Antragsteller, der Kassenärztlichen Vereinigung und den Krankenkassen derart tiefgreifend und nachhaltig gestört sei, dass eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zumutbar sei.

Der Antragsteller habe entgegen der von ihm mit seiner Zulassung gemäß § 95 Abs. 3 SGB V übernommenen Verpflichtung, die ärztlichen Leistungen gemäß der Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung und die Bundesmantelverträge zu erbringen, verstoßen. Nur in den in § 18 Abs. 8 BMV-Ä und § 21 Abs. 8 EKG genannten Ausnahmen sei der Antragsteller berechtigt gewesen, Vergütungen des Versicherten zu fordern.

Außerdem habe der Antragsteller gegen die Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung(§ 15 Abs. 1 BMV-Ä, § 14 Abs. 1 EKV, § 32 Abs. 1 Satz 1 Ärzte-ZV) verstoßen. Er habe nämlich Dr. R. ohne die erforderliche Genehmigung beschäftigt. Auch eine Vertretung im Rahmen des § 32 Abs. 1 Ärzte-ZV könne mangels der hierfür erforderlichen Voraussetzungen nicht zu Gunsten des Antragstellers anerkannt werden. Herr Dr. R. habe nämlich nicht die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 Ärzte-ZV erfüllt. Gerade bei Herrn Dr. R. habe das Fehlen der Genehmigung dazu geführt, dass ein Arzt, der an sich keine Berechtigung hatte, im System der GKV zu arbeiten, Leistungen erbracht habe.

Ferner bestehe der Verdacht, dass der Antragsteller durch die systematische Optimierung seiner Abrechnungen u.a. Leistungen zum Ansatz gebracht habe, obwohl diese von ihm nicht erbracht worden seien. Zwischen dem Antragsteller und der KVB sei eine Rückforderungsvereinbarung geschlossen worden, in der sich der Antragstel...

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