Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Sozialdatenschutz. transgeschlechtlicher Mensch. Offenbarungsverbot. getrennte Aktenführung nach Namens- bzw Personenstandsänderung. neue Kundenummer. Art der Zugriffsbeschränkungen. Ermessensspielraum. Durchbrechung des Offenbarungsverbots bei Rückforderung von Leistungen. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Transgeschlechtliche Leistungsberechtigte haben zur Durchsetzung des Offenbarungsverbots des § 5 Abs 1 TSG Anspruch auf getrennte Führung ihrer Verwaltungsvorgänge vor und nach ihrer Namens- und/oder Personenstandsänderung.

2. Die Bestimmung der Art und Weise der Zugriffsbeschränkung auf die früheren Daten liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.

3. Die Geltendmachung von Rückzahlungen aus Leistungszeiten vor der Namens- und/oder Personenstandsänderung begründet ein rechtliches Interesse der Behörde an der Durchbrechung des Offenbarungsverbots und damit den Zugriff auf die früheren Akten.

 

Tenor

1. Der Antragsgegner wird verpflichtet, durch hinsichtlich der Ausführung in seinem Ermessen stehende Maßnahmen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu gewährleisten, dass vorläufig, längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens, der Zugriff auf die bis zum 31. Dezember 2020 angefallenen Teile der Verwaltungsakte der Antragstellenden intern nur für Personen mit besonderer Zugriffsberechtigung und extern nur bei Vorliegen eines besonderen rechtlichen Interesses oder einer Zustimmung der Antragstellerin zu 1. möglich ist.

2. Im Übrigen wird der Eilantrag abgelehnt.

3. Der Antragsgegner ist verpflichtet, den Antragstellenden die Art der ergriffenen Maßnahmen binnen eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses mitzuteilen.

4. Der Antragsgegner hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellenden zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragstellenden beziehen seit Längerem Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II von dem Antragsgegner. Sie begehren dessen Verpflichtung, der Antragstellerin zu 1. eine neue Kundennummer und der Bedarfsgemeinschaft (BG) eine neue BG-Nummer zuzuweisen.

Die Antragstellerin zu 1. ist transgeschlechtlich (zur Terminologie vgl. S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung von Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit, AWMF-Register-Nr. xxx1, S. 4; Patient_innenleitfaden zu der Leitlinie, xxx2; Kasten, Sgb 2020, 672).

Erstmals mit Schreiben vom 04. Juli 2020 informierte sie den Antragsgegner, dass sie „ihren Beschluss“ über die Änderung ihres Namens und Personenstands erhalten habe. Nach seiner Rechtskraft werde sie ihre Geburtsurkunde und den Personalausweis ändern. Auf die Aufforderung des Antragsgegners vom 05. Oktober 2020, einen Nachweis für die Namensänderung vorzulegen, erklärte die Antragstellerin mit Schreiben vom 08. Oktober 2020, dieser habe lediglich ein Recht auf den Nachweis der aktuellen Daten. Dafür habe sie sechs Monate nach Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses am 09. Juli 2020 Zeit. Sie übersandte jedoch eine Kopie ihres aktuellen Personalausweises, aus dem sich der weibliche Personenstand und die aktuellen Vornamen A. D. E-F. ergaben.

Weiter wies sie den Antragsgegner in diesem Schreiben auf das Offenbarungsverbot aus § 5 des Transsexuellengesetzes (TSG) hin und meinte, deshalb müsse eine neue Akte mit neuer Kunden- und BG-Nummer angelegt werden; es dürfe ohne ihre Zustimmung oder eine gerichtliche Entscheidung kein Bezug mehr zu den vorherigen Nummern hergestellt werden. Deshalb dürften ohne ihre Zustimmung oder eine gerichtliche Entscheidung auch keine Darlehen, Vorschüsse, Ersatzansprüche oder Aufrechnungen in dem neuen Bewilligungsbescheid auftauchen. Dazu übersandte sie einen neuen Hauptantrag auf Leistungen nebst Formularen zu Unterkunft und Heizung, Mehrbedarfen etc. Wegen der erforderlichen Belege verwies sie auf die „Akte ihres Ehemanns“.

Der Antragsteller änderte seine Stammdaten und richtete sämtliche weitere Schreiben an die Antragstellerin unter ihren aktuellen Daten, jedoch mit unveränderter Kunden- bzw. BG-Nummer. Angesichts der mitgeteilten neuen Rentenversicherungsnummer stornierte er zudem bisherige Meldungen und meldete die Zeiten erneut unter der neuen Nummer.

Die Antragstellerin monierte, dass sie mit neuem Namen, aber alter BG-Nummer angeschrieben werde; darin liege ein Verstoß gegen das Offenbarungsverbot. Zudem erinnerte sie an den begehrten neuen Bewilligungsbescheid für Frau A. B-A.

Der Antragsgegner teilte daraufhin mit, ein Anspruch auf rückwirkende Änderung von Bescheiden ergebe sich aus § 5 TSG nicht. Er habe ihre Stammdaten geändert, sobald sie ihm vorgelegen hätten. Einer Änderung von Kunden- und BG-Nummer bedürfe es nicht und es entbehre dafür auch jeglicher Rechtsgrundlage.

Daraufhin reichten die Antragstellenden am 03. November 2020 einen Eilantrag wegen

Verletzung des § 5 TSG (Offenbarungsverbot)

§ 10 TSG (Wirkung der Ent...

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