Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Behandlung einer Beinspastik. Anspruch auf zulassungsüberschreitende Botulinumtoxin-Spritzentherapie mit Xeomin® im Off-Label-Use. Gendefekt. Seltenheitsfall

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Bestehen eines Anspruchs auf eine vierteljährliche Botulinumtoxin-Spritzentherapie mit Xeomin® im Off-Label-Use zur Behandlung einer Beinspastik, die bei Ausschöpfung auch der nach den einschlägigen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zur Verfügung stehenden weiteren, vertragsärztlichen Behandlungsmethoden auf der Grundlage eines Gendefektes nach einhelliger ärztlicher Auffassung als sogenanntem Seltenheitsfall am ehesten einer Hereditären Spastischen Spinalparalyse (HSP) entspricht.

 

Orientierungssatz

Az beim LSG: L 8 KR 225/11

 

Tenor

1. Der Bescheid vom 4.11.2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.1.2010 wird aufgehoben.

2. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin im Rahmen des ihr gegenüber der Beklagten zustehenden Sachleistungsanspruchs auf ärztliche Verordnung vierteljährlich durch einen hierzu berechtigten Arzt zur Behandlung ihrer Beinspastik mit einer ambulanten Botulinumtoxin-Therapie mit Xeomin® zu versorgen.

3. Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, die 1978 geborene, bei der Beklagten gesetzlich krankenversicherte Klägerin, die an einer progressiven neurodegenerativen Erkrankung und insoweit an einer regionalen schweren Spastik im Bereich beider Beine leidet, im Rahmen des ihr gegenüber der Beklagten zustehenden Sachleistungsanspruchs für die Zukunft in vierteljährlichem Rhythmus auf ärztliche Verordnung außerhalb der Zulassung im sogenannten Off-Label-Use durch einen hierzu berechtigten Arzt mit einer Botulinumtoxintherapie mit Xeomin® zur Behandlung ihrer Beinspastik, die nach einhelliger ärztlicher Auffassung am ehesten einer Hereditären Spastischen Spinalparalyse (im folgenden HSP) mit Optikusatrophie entspricht, zu versorgen.

Den entsprechenden bei der Beklagten am 5. Oktober 2009 gestellten Antrag der Klägerin hatte die Beklagte mit Bescheid vom 4. November 2009 nach Einholung einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 19. Oktober 2009 abgelehnt, da die Voraussetzungen eines sog. Off-Label-Use hierfür nicht vorlägen, weil mit Physiotherapie und zugelassen Medikamenten vertragliche Behandlungsalternativen und darüber hinaus für das vorgenannte Arzneimittel keine "zulassungsreife" Datenlage für die o. a. Indikation vorlägen, zumal sich die veröffentlichten Daten auf andere Krankheitsbilder bezögen.

Hiergegen hatte die Klägerin unter Vorlage weiterer Unterlagen u.a. des Universitätsklinikums C-Stadt (C-Fluss) - UKC-Stadt - am 23. November 2009 Widerspruch eingelegt sowie am 10. Dezember 2009 unter dem Az. S 12 KR 26/09 ER beim Sozialgericht in Kassel unter Hinweis auf einen am 23. September 2009 für den 15. Dezember 2009 im UK vereinbarten ambulanten Behandlungstermin als 2. Wiederholungsbehandlung den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und eine Kostenübernahme im einstweiligen Rechtsschutz vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache geltend gemacht, wobei die Kosten hierfür ca. 1.065,00 Euro pro Behandlungseinheit betragen hätten. Dem war die Beklagte im Anschluss an eine weitere Stellungnahme des MDK vom 30. November 2009 entgegengetreten, wobei das Gericht den Antrag schließlich im Weiteren mit Beschluss vom 14. Dezember 2009 als unbegründet abgelehnt hatte, da ein Anordnungsanspruch nicht vorliege.

Dies u.a. mit folgender Begründung:

"In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass (… innerhalb des Sachleistungsanspruch nach § 31 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Krankenversicherung, SGB V …) Anspruch nur auf nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) zugelassene Arzneimittel/Pharmakotherapien mit Medikamenten besteht und dies auch allein in ihrem bestimmungsgemäßen Anwendungsbereich, also in dem Bereich, für den sie nach dem AMG zugelassen sind. Liegt eine solche bestimmungsgemäße Anwendung vor, fällt die Verordnung allein in den Anwendungsbereich des behandelnden Vertragsarztes. Ohne die erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt es - auch in Würdigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichtes vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 47/98 - an der krankenversicherungsrechtlichen Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit dieser Arzneimitteltherapie.

Soweit die Verordnung/Anwendung wie hier im sogenannten Off-Label-Use, also außerhalb der Zulassung des Arzneimittels, zulassungsüberschreitend erfolgen soll, ist dies nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) insoweit nur unter engen Voraussetzungen möglich. Ein so genannter Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie ve...

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