Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeldanspruch. Bemessungsentgelt. Arbeitsentgeltanspruch. tarifvertraglicher Konsolidierungsverzicht. auflösende Bedingung. Wiederaufleben bei Insolvenzanmeldung. kein Missbrauch

 

Leitsatz (amtlich)

1. Fließen Arbeitsentgelte aufgrund einer Verzichtsvereinbarungen nicht zu und ist als "Gegenleistung" der Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen ausgeschlossen und ein Aufleben der Ansprüche bei Insolvenzanmeldung vereinbart, steht der Verzicht unter einer auflösenden Bedingung.

2. Leben Ansprüche auf Arbeitsentgelt mit dem Eintritt einer auflösenden Bedingung (zB Insolvenzanmeldung) wieder auf, sind diese erhöhend als Bemessungsentgelt zu berücksichtigen, wenn sie wegen der Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers nicht ausgezahlt werden. Ihr Wiederaufleben fällt nicht unter § 131 Abs 2 Nr 1 SGB 3 aF, wonach Arbeitsentgelte nicht berücksichtigt werden, wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses oder die im Hinblick auf die Arbeitslosigkeit vereinbart worden sind.

3. Tarifvertragliche Konsolidierungsverzichte, die zeitlich in deutlichem Abstand vor einer Insolvenz vereinbart worden sind, lassen kein missbräuchliches Verhalten zu Lasten der Versichertengemeinschaft erkennen.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 11.06.2015; Aktenzeichen B 11 AL 13/14 R)

 

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 22. August 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Oktober 2011 verurteilt, dem Kläger Arbeitslosengeld für die Zeit vom 1. Juli bis 3. Juli 2011 unter Berücksichtigung eines um 2.843,82 € erhöhten Entgelts im Bemessungszeitraum Juli 2010 bis Juni 2011 zu gewähren.

2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

3. Die Berufung wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von der Beklagten die Gewährung höheren Arbeitslosengeldes für die Zeit vom 01. bis 03. Juli 2011.

Der am ... 1979 geborene Kläger arbeitete seit September 1996 als Flachdrucker bei der S-GmbH (im Folgenden Arbeitgeberin) in F. Die S.-Gruppe AG und ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft - schlossen zum 01. Juli 2009 einen Konzerntarifvertrag mit dem Ziel, Produktionskapazitäten abzubauen und Personalkosten einzusparen und so eine existenzbedrohende Situation abzuwenden. In dem Ergebnisprotokoll der Verhandlungen vom 24., 25. und 26. Juni 2009 einigten sich Ver.di und die S. -Gruppe u.a. auf folgende Änderungen:

“1. Entfall von Einmalzahlungen

1.1 In den tarifgebundenen Unternehmen [..] S. -GmbH, entfallen in den kommenden Jahren dreimal die tariflichen Sonderzahlungen (TJL und ZUG) zu jeweils 50%. Im ersten Jahr 2009/2010 entfallen einmalig die Sonderzahlungen (TJL und ZUG) zu 53%. Die Auszahlungen für die verbleibenden 47 % bzw. 50 % der Sonderzahlungen werden in den Unternehmen auf Juni und November verteilt.

1.2 […]

1.3 Abweichend von dieser Regelung gilt für die S.-GmbH folgende Vereinbarung. Die erste in diese Laufzeit fallende Sonderzahlung (TJL und ZUG) wird zu je 73,5% ausbezahlt.„

Der Konzerntarifvertrag (KTV) samt Ergebnisprotokoll galt auch für die Arbeitgeberin des Klägers (§ 1 Abs. 1 KTV) und seine Geltung war bis 30. September 2012 befristet (§ 7 Abs. 2 KTV). Der Ausspruch betriebsbedingter Kündigungen war ab Inkrafttreten des KTV bis zum 31. Dezember 2013 ausgeschlossen (§ 3 Abs. 1 KTV). Nach § 3 Abs. 3 war Folgendes vereinbart:

“Meldet die S.-Gruppe AG Insolvenz an, leben die vollen Ansprüche auf die tariflichen Leistungen bzw. Entgeltleistungen in sämtlich betroffenen Unternehmen wieder auf. Wenn eines der in § 1 Ziff. 1.1. genannten Unternehmen Insolvenz anmeldet, leben die vollen Ansprüche auf Entgeltleistungen für die von betriebsbedingten Kündigungen betroffenen Mitarbeiter dieses Unternehmens wieder auf. Die S. -Gruppe AG muss die gekürzten Beträge wieder zurückzahlen. Ver.di hat in diesem Fall ein Recht auf fristlose Kündigung des Tarifvertrages.„

Die Arbeitgeberin und ver.di schlossen im Oktober 2009, inkrafttretend zum 01. Juli 2009, einen ergänzenden Firmentarifvertrag Konsolidierung (FTV) und vereinbarten eine Kürzung der tariflichen Jahresleistung 2009, des zusätzlichen Urlaubsgeldes 2010 um 53 %, der tariflichen Jahresleistung 2010 und 2011 sowie des zusätzlichen Urlaubsgeldes 2011 und 2012 um 50 %. In § 3 FTV vereinbarten die Parteien den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis 31. Dezember 2013 und das Aufleben der vollen Ansprüche auf die tariflichen Entgeltleistungen bei Insolvenzanmeldung der Arbeitgeberin.

In dem Protokoll über die Tarifverhandlungen bei der S. -Gruppe AG vom 02. Juli 2010 vereinbarten die Tarifparteien in Ergänzung zum KTV (§ 4 KTV), dass die zum 01. April 2010 wirksamen tariflichen Lohn- und Gehaltserhöhungen von 2 % um zwölf Monate verschoben und zum 01. April 2011 wirksam werden. Vorgesehen war außerdem die Absenkung des zusätzlichen Urlaubsgeldes sowie der Jahresleistung für 2010 auf jeweils 20 % und für 2011 auf jeweils 30 % des tariflichen Anspruchs.

Von November 2009 bis Dezember 2010 zahlte die Arbeitgeberin die Konsoli...

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