Entscheidungsstichwort (Thema)

Handlungstendenz des Versicherten im Unfallzeitpunkt als maßgebliches Kriterium für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls

 

Orientierungssatz

1. Zur Anerkennung eines Unfallereignisses als Arbeitsunfall ist nach § 8 Abs. 1 SGB 7 u. a. erforderlich, dass der Unfall wesentlich durch die versicherte Tätigkeit verursacht worden ist.

2. Maßgebliches Kriterium für den erforderlichen Zusammenhang ist die Handlungstendenz des Versicherten, nämlich ob er eine dem Beschäftigungsunternehmen dienende Verrichtung ausüben wollte.

3. Entscheidendes Abgrenzungskriterium für die Frage, ob eine gemischte Tätigkeit wesentlichen betrieblichen Interessen zu dienen bestimmt ist, ist, ob die unfallbringende Tätigkeit hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn der private Zweck entfallen wäre.

4. War die Handlungstendenz des Verunglückten im Unfallzeitpunkt nicht auf eine betriebsdienliche Tätigkeit gerichtet, sondern diente sie wesentlich der Verfolgung eigener Angelegenheiten, so ist Versicherungsschutz zu verneinen.

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob das Ereignis vom 07.01.2012 als Arbeitsunfall zu qualifizieren ist.

Die 1973 geborene Klägerin arbeitet beim Service der C. am C-Stadter D. Am 07.01.2012, gegen 15 Uhr, nahm sie dort mit einem Kollegen einen gefundenen Rucksack entgegen. Gemeinsam nahmen sie den Rucksack und dessen Inhalt in Augenschein und listeten den Inhalt auf. Etwas fünfzehn Minuten später kam die Bundespolizei. In dem Rucksack hätten sich auch 15.000 Rubel, 500 Euro, Schmuck und eine Festplatte befunden. Die Klägerin händigte den Rucksack gegen Unterschrift an die Bundespolizei aus. Gegen 18:20 Uhr wurden erst ihr Kollege und gegen 18:45 Uhr dann sie zur Wache geführt. Dort wurden die Taschen und die Kleidung der Klägerin untersucht. Hierfür musste sie sich komplett entkleiden.

Nach Eingang des Schreibens des Ehemannes der Klägerin vom 19.04.2012, bei der Beklagten am 23.04.2012 eingegangen, lehnte diese mit Bescheid vom 27.04.2012 einen Anspruch der Klägerin auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, da kein eigentliches Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung vorgelegen habe.

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin vom 24.05.2012 mit Widerspruchsbescheid vom 19.07.2012 zurück, da kein Arbeitsunfall vorliege. Zur Zeit des Unfalls müsse die Klägerin eine versicherte Tätigkeit ausgeübt haben, wobei die Handlungstendenz entscheidend sei. Maßgeblich sei, ob eine dem Beschäftigungsunternehmen dienende Verrichtung ausgeübt werden wolle. Die die Unterbrechung privaten Verrichtungen werde dahingehend unterschieden, ob die Unterbrechung erheblich oder unerheblich sei. Bei einer erheblichen Unterbrechung bestehe kein Versicherungsschutz. Durch die Aufforderung, sich einer polizeilichen Kontrolle zu unterziehen, werde der Versicherungsschutz rechtlich wesentlich durch eine private Verrichtung unterbrochen. Die Handlungstendenz sei im Moment des Mitgehens zur Kontrolle nicht auf eine betriebsdienliche Tätigkeit gerichtet, sondern habe wesentlich der Verfolgung eigener Angelegenheiten, nämlich der Verpflichtung zur Feststellung, ob sich die Klägerin einer Straftat schuldig gemacht habe, gedient. Als sich die Klägerin einer polizeilichen Untersuchung unterzogen habe, sei sowohl nach den objektiven Gesamtumständen als auch nach der subjektiven Handlungstendenz deutlich zum Ausdruck gekommen, dass wesentliche betriebliche Interessen nicht mehr ihr Verhalten bestimmt hätten.

Am 20.08.2012 hat die Klägerin beim Sozialgericht Fulda Klage erhoben.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass ihr durch die Verhaftung vom 07.01.2012 ein körperlicher und ein seelischer Schaden entstanden seien. Da sie während ihrer Arbeitstätigkeit verhaftet geworden sei, handele es sich auch um einen Arbeitsunfall

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 27.04.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Ereignis vom 07.01.2012 als Arbeitsunfall i.S.v. § 8 Abs. 1 S. 1 SGB VII anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte stützt ihre Rechtsansicht auf den angegriffenen Bescheid. Die bei der Klägerin vorgenommene Untersuchung sei sicherlich unangenehm gewesen, aber seitens der Polizei nicht unverhältnismäßig, da zu diesem Zeitpunkt der Verdacht einer Straftat im Raum gestanden habe. Die Leibesvisitation erfülle nicht den Begriff des Unfalls im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung.

Die Kammer hat im Wege der Amtsermittlung Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, Entlassungsberichte sowie das Vorerkrankungsverzeichnis angefordert und die Akte des parallelen Schwerbehindertenrechtsstreits, Az. S 6 SB 100/09, beigezogen und zum Gegenstand ihrer Entscheidung gemacht.

Die Kammer hat über die Folgen des Ereignisses vom 07.01.2012 durch Einholung eines medizini...

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