Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt. Leistungsausschluss für dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB 2. Leistungsausschluss gem § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB 12. keine Leistungsgewährung nach § 23 Abs 1 S 3 SGB 12. Verfassungsmäßigkeit. Ermessensreduzierung auf Null bei mehr als sechsmonatigem Aufenthalt. Verfassungsmäßigkeit der Entscheidungen des BSG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Sowohl § 21 S 1 SGB XII als auch § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII stehen der Gewährung von Leistungen nach § 23 Abs 1 S 3 SGB XII iVm §§ 27ff SGB XII an erwerbsfähige Hilfebedürftige, die EU-Staatsangehörige und von dem Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II erfasst sind, entgegen. § 21 S 1 SGB XII stellt grundsätzlich eine "Anwendungssperre" für erwerbsfähige Hilfebedürftige im Hinblick auf den Zugang zu Leistungen nach dem SGB XII dar; die vom BSG zu dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 4 SGB II entwickelten Grundsätze lassen sich nicht auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II übertragen. Außerdem lässt der Leistungsausschluss gem § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII, bei dem es sich um eine "sicherstellende" Regelung zusätzlich zu der "Anwendungssperre" des § 21 S 1 SGB XII handelt, keinen Raum für die Gewährung von Leistungen im Ermessenswege gem § 23 Abs 1 S 3 SGB XII (Fortführung von SG Dortmund vom 18.4.2016 - S 32 AS 380/16 ER; entgegen BSG vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R = BSGE 120, 149 = SozR 4-4200 § 7 Nr 43 und vom 20.1.2016 - B 14 AS 35/15 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 47; Anschluss an SG Dortmund vom 11.2.2016 - S 35 AS 5396/15 ER, LSG Essen vom 7.3.2016 - L 12 SO 79/16 B ER, LSG Celle-Bremen vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER = NdsRpfl 2016, 168).

2. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB II verletzt - auch unter Berücksichtigung der aufgrund von § 21 S 1 SGB XII und § 23 Abs 3 S 1 Alt 2 SGB XII fehlenden Anspruchsberechtigung in Bezug auf Leistungen nach dem SGB XII - nicht das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG (Fortführung von SG Dortmund vom 18.4.2016 - S 32 AS 380/16 ER; Anschluss an SG Dortmund vom 11.2.2016 - S 35 AS 5396/15 ER, LSG Essen vom 7.3.2016 - L 12 SO 79/16 B ER, LSG Celle-Bremen vom 22.2.2016 - L 9 AS 1335/15 B ER aaO, SG Berlin vom 22.2.2016 - S 95 SO 3345/15 ER, LSG Hamburg vom 15.10.2015 - L 4 AS 403/15 B ER und LSG München vom 1.10.2015 - L 7 AS 627/15 B ER).

3. Selbst wenn man die Möglichkeit eines Leistungsbezugs nach dem SGB XII für erwerbsfähige EU-Ausländer annehmen wollte, spräche nichts dafür, nach Ablauf von sechs Monaten bei der Anwendung von § 23 Abs 1 S 3 SGB XII eine "Verfestigung" des Aufenthalts und deshalb regelmäßig eine Ermessensreduzierung auf Null zugunsten einer Gewährung von Leistungen nach §§ 27 ff SGB XII anzunehmen. Eine solche Ermessensreduzierung auf Null lässt sich nicht mit einem angeblichen ausländerrechtlichen "Vollzugsdefizit" begründen, weil für Unionsbürger mit dem FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) und der ihm zugrunde liegenden Unionsbürgerrichtlinie (juris: EGRL 38/2004) ein System einer "privatisierten" Unionsbürgerfreizügigkeit geschaffen worden ist, das sich durch das Fehlen einer klassischen aufenthaltsrechtlichen Zugangssteuerung auszeichnet, und das gerade unter der Prämisse geschaffen worden ist, dass ein Aufenthalt nur zur Arbeitssuche oder nicht einmal zur Arbeitssuche nicht zu einer Alimentationspflicht führt (Fortführung von SG Dortmund vom 18.4.2016 - S 32 AS 380/16 ER und vom 20.7.2016 - S 32 AS 3037/16 ER).

4. Die vom BSG vorgenommene verfassungskonforme Auslegung der §§ 21, 23 Abs 3 und Abs 1 S 3 SGB XII einschließlich der Annahme einer regelmäßigen Ermessensreduzierung auf Null ist nicht vertretbar und ihrerseits wegen Verletzung der Grenzen richterlicher Gesetzesauslegung und der Vorlagepflicht gem Art 100 GG und damit der Garantie des gesetzlichen Richters aus Art 101 Abs 1 S 2 GG verfassungswidrig (Fortführung von SG Dortmund vom 20.7.2016 - S 32 AS 3037/16 ER).

5. Der vom BSG vertretenen Auffassung ist auch deshalb nicht zu folgen, weil sich aus ihr eine sozialleistungsrechtliche "Achterbahnfahrt" ergeben würde. Denn nach diesem Ansatz bestünde ausgerechnet in den ersten drei Monaten des Aufenthalts in Deutschland ein gebundener Anspruch nach §§ 23 Abs 1 S 1, 27 ff SGB XII, weil § 23 Abs 3 SGB XII für diesen Zeitraum, in dem das von § 2 Abs 2 FreizügG/EU abzugrenzende und voraussetzungslose, insbesondere keine Arbeitssuche voraussetzende Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 5 FreizügG/EU besteht, keinen der Regelung des § 7 Abs 1 S 2 Nr 1 SGB II entsprechenden Leistungsausschluss enthält. Die Auffassung des BSG hätte daher zur Folge, dass in den ersten drei Monaten ein gebundener Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlichem Umfang bestünde, in den Monaten 4-6 nur ein Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung n...

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