Entscheidungsstichwort (Thema)

Höhe des Arbeitslosengeldes. Bemessungsentgelt. Erziehungszeit. Erweiterung des Bemessungszeitraumes und -rahmens. fiktive Bemessung. Pauschalierung. Verfassungswidrigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 130 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB 3 muss ggf dahingehend ausgelegt werden, dass die in der Vorschrift genannten Erziehungszeiten derart für die Ermittlung des Bemessungszeitraums außer Betracht zu bleiben haben, dass der Bemessungsrahmen um die Dauer dieser Zeiträume erweitert wird. Die Kammer lässt offen, ob dies nur dann zu geschehen hat, wenn der Arbeitslose es verlangt und/oder im verlängerten Bemessungsrahmen 150 Tage mit Arbeitsentgelt nicht erreicht werden.

2. Die Festlegung der Pauschalen durch § 132 Abs 2 SGB 3 im Rahmen der fiktiven Bemessung beinhaltet für den jeweiligen Regelfall des durchschnittlichen Arbeitslosen in der entsprechenden Qualifikationsgruppe eine erhebliche Absenkung der Bemessungsgrundlage für das Arbeitslosengeld gegenüber dem bisherigen Recht. Die Pauschalwerte erscheinen hinsichtlich ihrer Ermittlung nicht plausibel und es lässt sich jedenfalls für die von § 130 Abs 2 S 1 Nr 3 und 4 SGB 3 erfassten Fallkonstellationen ein vernünftiger oder auch nur einleuchtender Regelungszweck für eine solche Absenkung nicht erkennen.

3. Die besondere Schutz- und Fürsorgepflicht gegenüber Müttern nach Art 6 Abs 4 GG gebietet deshalb für die von § 130 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB 3 erfassten Fallkonstellationen eine verfassungskonforme Auslegung.

 

Orientierungssatz

Für die fiktive Bemessung ist ausschließlich die Dauer des Bemessungszeitraumes relevant und der Bemessungsrahmen Tatbestandsmerkmal des Bemessungszeitraums, weil dieser wegen § 130 Abs 1 S 1 SGB 3 nunmehr vollständig innerhalb des Bemessungsrahmens liegen muss.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 25.08.2011; Aktenzeichen B 11 AL 19/10 R)

 

Tenor

1.

Der Bescheid der Beklagten vom 19. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 2006 in der Form des Bescheides vom 11. April 2006 in der Form des Teilanerkenntnisses vom 29. Mai 2006 wird abgeändert.

2.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin seit 1. Dezember 2005 Arbeitslosengeld auf der Grundlage eines Bemessungsentgelts von 135,13 Euro täglich zu gewähren.

3.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zu erstatten.

4.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Anspruchs der Klägerin auf Arbeitslosengeld.

Die 1966 geborene Klägerin absolvierte erfolgreich eine Ausbildung zur staatlich geprüften Betriebswirtin an der H.-Fachschule B. bis Juni 1995. Sie war seit 1. März 1996 bei der A. GmbH (Arbeitgeberin) als Gebietsleiterin Gastro beschäftigt. Sie arbeitete in einer Fünftagewoche 38 Stunden wöchentlich.

Sie brachte am 31. Mai 2001 ihre Tochter und am 16. August 2002 ihren Sohn zur Welt und nutzte bis 15. August 2005 die Elternzeit und unterbrach dafür ihre Erwerbstätigkeit. Sie war seit 7. April 2001 für die Geburt ihrer Tochter im Mutterschutz. Die Klägerin erhielt unter Anrechnung des Mutterschaftsgeldes Erziehungsgeld für die Erziehung der Tochter für sechs Monate und für die Erziehung des Sohnes für 12 Monate. Darüber hinaus erhielt sie kein Erziehungsgeld wegen des Einkommens des Vaters der Kinder.

Die Arbeitgeberin kündigte ihr mit Schreiben vom 11. Mai 2005 fristgemäß zum 30. November 2005.

Die Klägerin erzielte in den Monaten Juli bis Oktober 2000 monatliche versicherungspflichtige Bruttoeinkünfte in Höhe von jeweils 3.327,23 EUR, im November 2000 von 6.369,93 EUR, im Dezember 2000 von 6.207,41 EUR, in den Monaten Januar und Februar 2001 jeweils in Höhe von 3.327,24 EUR im März 2001 von 4.857,33 EUR und im April 2001 von 980,83 EUR. Nach Wiederaufnahme der Beschäftigung am 16. August 2005 erhielt die Klägerin Arbeitsentgelt im Monat August 2005 in Höhe von 1.784,24 EUR, in den Monaten September und Oktober 2005 jeweils 3.417,78 EUR und für den Monat November 2005 in Höhe von 4.684,25 EUR, die bis zum Ausscheiden der Klägerin durch die Arbeitgeberin monatlich abgerechnet waren.

Am 20. Oktober 2005 beantragte die Klägerin Arbeitslosengeld und meldete sich zum 1. Dezember 2005 bei der Beklagten arbeitslos.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 19. Dezember 2005 Arbeitslosengeld ab 1. Dezember 2006 für 360 Tage in einer Höhe von 29,05 EUR täglich. Grundlage der Berechnung war ein tägliches Bemessungsentgelt von 64,40 EUR, wobei die Beklagte den erhöhten Leistungssatz und die Steuerklasse II berücksichtigte.

Gegen die Entscheidung der Beklagten hinsichtlich der Höhe der Leistung legte die Klägerin mit Schreiben vom 19. Januar 2006 Widerspruch ein. Es hätte die Elternzeit der Klägerin vom 16. Juli 2001 bis 15. August 2005 derart berücksichtigt werden müssen, dass sie nach § 130 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Drittes Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung in der Fassung seit 1. Januar 2005 (SGB III) gänzlich außer Betracht zu bleiben hatte. Dadurch hätte sich ein höherer Leistungsbet...

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