Rz. 96

Die ZPO-Reform 2002 hat mit § 574 ZPO die Rechtsbeschwerde kraft Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache eingeführt. Diese Regelung ist in Abs. 3 S. 2 für das Erstgericht übernommen worden. Bezweckt wird damit die Wahrung der Rechtseinheit und die Fortbildung des Rechts.

1. Grundsätzliche Bedeutung

 

Rz. 97

Dieser Begriff lässt sich wie folgt definieren:[56]

Zitat

"Von grundsätzlicher Bedeutung sind ungeklärte Rechtsfragen, deren Beantwortung über den konkreten Rechtsfall hinaus für alle weiteren Fälle dieser Art entscheidungserheblich sein kann."

 

Rz. 98

Für das Revisions- und Rechtsbeschwerdeverfahren (§§ 543 Abs. 2 Nr. 1, 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) hat der Bundesgerichtshof den Begriff der grundsätzlichen Bedeutung leider völlig verwässert, indem er zusätzliche Begriffsmerkmale erfunden hat: Wiederholungsgefahr, Nachahmungsgefahr, symptomatische Bedeutung eines Fehlers und dgl.[57] Der die Beschwerde führende Anwalt ist daher gut beraten, die Zulassung der Beschwerde nicht nur anzuregen, sondern dazu auch substanzreiche Ausführungen zu fertigen.

[56] Siehe E. Schneider, ZAP Fach 13, S. 1225.
[57] Siehe dazu E. Schneider, Praxis der neuen ZPO, Rn 599 ff.; ders., ZAP Fach 13, S. 1201 ff.

2. Divergenzfälle

 

Rz. 99

Eine Zulassung wegen Abweichens von ober- und höchstrichterlichen oder verfassungsrechtlichen Entscheidungen ist nicht vorgesehen. Insoweit handelt es sich aber nur um einen Unterfall der Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist deshalb auch dann zu bejahen, wenn wegen abweichender sonstiger Rechtsprechung Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage besteht und deren Vereinheitlichung durch eine höherinstanzliche Leitentscheidung dringlich ist.[58] Dafür spricht auch, dass die Abweichung von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung oder allgemeinen Meinung die Verfassungsbeschwerde rechtfertigen kann:[59]

Zitat

"Weicht ein Gericht bei der Anwendung von Vorschriften des einfachen Rechts von deren Auslegung durch ihm übergeordnete Gerichte, vor allem derjenigen des Bundesgerichtshofes ab, dann muß es dies begründen und den Parteien Gelegenheit geben, sich dazu zu äußern und ihren Sachvortrag gegebenenfalls anzupassen. Auch wenn die unteren Instanzen der Fachgerichte grundsätzlich von der Auffassung übergeordneter Gerichte abweichen dürfen, sind sie aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit gehindert, solche Meinungsverschiedenheiten zu Lasten des Bürgers auszutragen, der auf eine eindeutige Rechtsprechung eines obersten Bundesgerichts vertraut."

 

Rz. 100

Der Anwalt sollte deshalb das Beschwerdegericht auf mögliche Divergenzen und auf einschlägige Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts[60] hinweisen und dadurch erzwingen, dass das Gericht sich mit der Frage der grundsätzlichen Bedeutung seiner Entscheidung auseinandersetzt.

[59] BVerfG NJW 1991, 2276.
[60] Siehe dazu E. Schneider, Praxis der neuen ZPO, Rn 1391.

3. Zulassungsentscheidung

 

Rz. 101

Für die Zulässigkeit der Erstbeschwerde ist nach Abs. 2 S. 3 eine Mindestbeschwer vorgeschrieben. Für die weitere Beschwerde bedarf es nur einer Beschwer an sich, also einer dem Beschwerdeführer irgendwie ungünstigen Vorentscheidung. An die Stelle der Mindestbeschwer tritt die Rechtsmittelbeschränkung des Zulassungszwangs.

 

Rz. 102

Die Zulassung ist so geregelt, dass nur das Beschwerdegericht darüber zu entscheiden hat. Das Gericht der weiteren Beschwerde kann nur prüfen, ob die Zulassung bindend beschlossen worden ist. Es gibt keine Zulassungsbeschwerde.

Im Anschluss an die Auslegung des § 546 Abs. 1 S. 2 ZPO a.F. (= § 543 ZPO n.F.) muss die weitere Beschwerde im Beschluss selbst zugelassen werden.[61] Das sollte im Beschlusstenor geschehen. Eine Zulassung in den Beschlussgründen reicht aber aus.[62]

 

Rz. 103

Unterbleibt die Zulassung, dann kommt nur eine Berichtigung des Beschlusses in Betracht. Da aber das Schweigen zur Zulassung als konkludente Nichtzulassung gedeutet wird,[63] besteht für die Annahme einer "offenbaren Unrichtigkeit" nur selten ein zureichender Grund.

 

Rz. 104

Eine Ergänzung des Beschlusses wird als unbeachtlich behandelt.[64]

 

Rz. 105

Für die Zulassungsentscheidung besteht Begründungszwang. Das ergibt sich aus der Verweisung in § 546 Abs. 3 ZPO auf § 547 ZPO. Nach dessen § 547 Nr. 6 ist das Fehlen einer Begründung ein absoluter Revisionsgrund und entsprechend ein absoluter Rechtsbeschwerdegrund[65] (zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit einer Begründung siehe § 32 Rdn 57 ff.).

[61] BGH 17.12.2003 – II ZB 35/03, FamRZ 2004, 530.
[62] BGH 8.3.1956 – III ZR 265/54, NJW 1956, 830.
[63] OLG Saarbrücken NJW-RR 1999, 214.
[64] BGH 8.3.1956 – III ZR 265/54, NJW 1956, 830; BGH 2.2.1966 – VIII ZR 76/64 u. 77/64, NJW 1966, 931; BGH 4.3.1981 – IVb ZB 552/80, MDR 1981, 571; OLG Köln JurBüro 1994, 757; JurBüro 1997, 474.

4. Zulassungszwang

 

Rz. 106

Der Wortlaut des Abs. 3 S. 2 verleitet zu der Annahme, die Zulassung der Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung stehe im Ermessen des Erstgerichts. Es ist n...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge